Heft 
(1892) 70
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Deutsche Rundschau.

Wenigstens bekenne offen, daß ich, wenn ich mit meinem Vortrage gerade an der Reihe war, das Gefühl eines gewissen Unbehagens, ja zu Zeiten einer geradezu hochgradigen Beklemmung nie ganz los geworden bin. Und in einem so be­drängten Augenblicke seh' ich dann unseren immer zu spät kommenden Friedeberg eintreten, verlegen lächelnd natürlich, und empfinde sofort, wie meiner Seele die Flügel wieder wachsen; ich spreche freier, intuitiver, klarer, denn ich habe wieder ein Publicum, wenn auch nur ein ganz kleines. Ein andächtiger Zuhörer, anscheinend so wenig, ist doch schon immer was und mitunter sogar sehr viel." Auf diese warme Vertheidigung Wilibald Schmidt's hin war Friedeberg dem Kreise ver­blieben. Schmidt durfte sich überhaupt als die Seele des Kränzchens betrachten, dessen Namensgebung:Die sieben Waisen Griechenlands" ebenfalls aus ihn zurückzusühren war. Immanuel Schultze, meist in der Opposition und außerdem ein Gottfried Keller-Schwärmer, hatte seinerseitsDas Fähnlein der sieben Auf­rechten" vorgeschlagen, war aber damit nicht durchgedrungen, weil, wie Schmidt betonte, diese Bezeichnung einer Entlehnung gleichgekommen wäre.Die sieben Waisen" klängen freilich ebenfalls entlehnt, aber das sei bloß Ohr- und Sinnes­täuschung; dasa", worauf es recht eigentlich ankomme, verändere nicht nur mit einem Schlage die ganze Situation, sondern erziele sogar den denkbar höchsten Standpunkt, den der Selbstironie.

Wie sich von selbst versteht, zerfiel die Gesellschaft, wie jede Vereinigung derart, in fast ebenso viele Parteien, wie sie Mitglieder zählte, und nur dem Umstande, daß die Drei vom Großen Kurfürsten - Gymnasium, außer der Zusammengehörigkeit, die diese gemeinschaftliche Stellung gab, auch noch ver­wandt und verschwägert waren (Kuh war Schwager, Immanuel Schultze Schwiegersohn von Rindfleisch), nur diesem Umstande war es zuzuschreiben, daß die vier Anderen, und zwar aus einer Art Selbsterhaltungstrieb, ebenfalls eine Gruppe bildeten und bei Beschlußfassungen meist zusammengingen. Hinsichtlich Schmidts und Distelkamp's konnte dies nicht weiter überraschen, da sie von alter Zeit her Freunde waren, zwischen Etienne und Friedeberg aber klaffte für gewöhnlich ein tiefer Abgrund, der sich ebenso sehr in ihrer von einander ab­weichenden Erscheinung wie in ihren verschiedenen Lebensgewohnheiten aussprach. Etienne, sehr elegant, versäumte nie, während der großen Ferien, mit Nachurlaub nach Paris zu gehen, während sich Friedeberg, angeblich um seiner Malstudien willen, aus die Woltersdorser - Schleuse (die landschaftlich unerreicht dastände) zurückzog. Natürlich war dies Alles nur Vorgabe. Der wirkliche Grund war der, daß Friedeberg, bei ziemlich beschränkter Finanzlage, nach dem erreichbar Nächstliegenden griff und überhaupt Berlin nur verließ, um von seiner Frau mit der er seit Jahren immer dicht vor der Scheidung stand auf einige Wochen loszukommen. In einem sowohl die Handlungen wie die Worte seiner Mitglieder kritischer prüfenden Kreise hätte diese Finte nothwendig verdrießen müssen, indessen Offenheit und Ehrlichkeit im Verkehr mit- und untereinander war keineswegs ein hervorstechender Zug dersieben Waisen", eher das Gegen- theil. So versicherte beispielsweise Jeder,ohne den Mbend^ eigentlich nicht leben zu können," was in Wahrheit nicht ausschloß, daß immer nur die kamen, die nichts Besseres vor hatten. Theater und Skat gingen weit vor und sorgten