Utopien.
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allen anderen, nicht ökonomischen Fragen das Leben und Treiben der Bewohner jener Insel unter strengen allgemeinen Regeln stehend, und es werden ihre Geschicke vom Staate ungemein stark beeinflußt und bestimmt. Alles gemäß dem Satze der Versassung Utopiens: daß alle Bewohner der Insel als Glieder einer großen Familie sich sühlen sollen.
Die Grundlage der utopischen Gesellschaft bildet zwar auch die Einzelsamilie, aus monogamischer Grundlage. Aber eine abgeschlossene Heimstätte und eigenen Hausstand hat ja keine; und um jeden Gedanken daran im Keime zu ersticken, so gilt die Bestimmung, daß alle zehn Jahre ein allgemeiner Wohnungswechsel stattzufinden hat, und die Familien um dasjenige Haus loosen müssen, welches ihnen von da ab zu Theil werden soll. Doch am schärfsten muß der Satz wirken, wonach eine staatliche Normalzahl sür die zulässigen Familienglieder besteht, so daß kinderreiche Familien von ihrem Ueberflusse an andere weniger gesegnete abgeben müssen; ebenso übervölkerte Städte an weniger bewohnte; während bei zu starkem Anwachsen der Gesammtbevölkerung — denn jede Stadt darf und muß genau sechstausend Familien zählen — die überschüssige Bevölkerung zur Auswanderung und Coloniengründung gezwungen wird.
Früh Morgens sechs Uhr erheben sich die Bewohner Utopiens, nachdem sie die allgemein bestimmte Zeit von neun Stunden der Ruhe gewidmet haben. Die Straßen füllen sich mit einer Menge von Personen, welche alle gleichmäßig in die vom Staate vorgeschriebene Tracht gekleidet sind. Diese sür alle Bewohner der Insel geltende Form der Kleider ist auch unveränderlich; sie unterscheidet bloß das männliche Geschlecht vom weiblichen, das Cölibat von der Ehe. Dabei ist die Kleidung sehr einfach, sür Handarbeit berechnet, von Leder und Fellen hergestellt; jetzt aber am Morgen, da sie noch nicht unmittelbar an die Arbeit gehen, tragen Alle über jener eine Art Mantel oder Oberrock, der das grobe Arbeitskleid verbirgt. Schmucksachen irgend welcher Art, und Gold und Silber Werden nicht geduldet; ja, man schätzt dort diese Metalle geringer, als das nützliche Eisen, und hat dieselben sogar verächtlich zu machen gesucht, indem man aus Gold unsaubere Gefäße herstellt'), auch Ketten und Fesseln sür die Sklaven, sowie Schandmale sür solche Verurtheilte daraus schmiedet, welche entehrende Verbrechen begangen; diese letzteren tragen goldene Ringe an den Fingern und in den Ohren, eine goldene Schnur am Halse und goldene Spangen am Kopse. Und die Chronik der Insel erzählt drollige Mißverständnisse gegenüber einer Gesandtschaft des Nachbarvolkes der Anemolier, da die Utopier die reich und glänzend geschmückten Gesandten sür Knechte und deren einfache Diener sür die Gesandten hielten M Auch der oberste Beamte des Kantons, obgleich seine
1) „lüx nuro ntguö nrg'6nto QOU in coininnnibu8 3n1i8 inoäo, 86ck in xrivnti8 etinin cIonnvu8 INg.t6l1N8 PÄ881IN 3.6 80räiäi88ilN3 gN36gN6 V383 oonüoiunt."
„Die Kinder, welche im frühesten Alter mit Diamanten und Perlen gespielt und diese schon stolz abgelegt hatten, stießen, da sie solche an den Hüten der Gesandten erblickten, ihre Mütter an. — Sieh' doch diesen großen Schelm, sagten sie, der noch Juwelen trägt, wie wenn er ganz klein wäre. — Und die Mütter erwiderten ernst: Schweig', mein Sohn; er ist, wie ich denke, einer von den Spaßmachern der Gesellschaft. — Andere beurtheilten die Form der goldenen Ketten: sie sind allzu schwach, man könnte sie leicht zerbrechen; überdies sind sie nicht schroff genug angezogen, der Sklave könnte sich, wenn er wollte, ihrer entledigen und davon fliehen..."