Frau Jenny Treibel. 343
erst, daß ich eigentlich hungrig bin. Geben Sie mir ein Schnittchen ab, wenn es Ihnen nicht sauer wird."
„Wie Du nur redest, Corinna. Wie kann es mir denn sauer werden. Ich führe ja bloß die Wirtschaft und bin bloß eine Dienerin."
„Ein Glück, daß Papa das nicht hört. Sie wissen doch, das kann er nicht leiden, daß Sie so von Dienerin reden, und er nennt es eine falsche Bescheidenheit ..."
„Ja, ja, so sagt er. Aber Schmolle, der auch ein ganz kluger Mann war, wenn er auch nicht studirt hatte, der sagte immer, ,höre, Rosalie, Bescheidenheit ist gut, und eine falsche Bescheidenheit (denn die Bescheidenheit ist eigentlich immer falsch) ist immer noch besser als gar keines"
„Hm," sagte Corinna, die sich etwas getroffen fühlte, „das läßt sich hören. Ueberhaupt, liebe Schmolle, Ihr Schmolle muß eigentlich ein ausgezeichneter Mann gewesen sein. Und Sie sagten ja auch vorhin schon, er habe so etwas Anständiges gehabt und beinah' zu anständig. Sehen Sie, so 'was höre ich gern, und ich möchte mir Wohl Etwas dabei denken können. Worin war er denn nun eigentlich so sehr anständig . . . Und dann, er war ja doch bei der Polizei. Nun, offen gestanden, ich bin zwar froh, daß wir eine Polizei haben, und freue mich immer über jeden Schutzmann, an den ich herantreten und den ich nach dem Weg fragen und um Auskunft bitten kann, und das muß wahr sein, Alle sind artig und manierlich, wenigstens Hab' ich es immer so gefunden. Aber das von der Anständigkeit und von zu anständig . . ."
„Ja, liebe Corinna, das is schon richtig. Aber da sind ja Unterschiedlichkeiten, und was sie Abtheilnngen nennen. Und Schmolle war bei solcher Abtheilung."
„Natürlich. Er kann doch nicht überall gewesen sein."
„Nein, nicht überall. Und er war gerade bei der allerschwersten, die für den Anstand und die gute Sitte zu sorgen hat."
„Und so 'was gibt es?"
„Ja, Corinna, so 'was gibt es und muß es auch geben. Und wenn nu — was ja doch vorkommt, und auch bei Frauen und Mädchen vorkommt, wie Du ja Wohl gesehen und gehört haben wirst, denn Berliner Kinder sehen und hören Alles — wenn nu solch' armes und unglückliches Geschöpf (denn manche sind wirklich bloß arm und unglücklich) etwas gegen den Anstand und die gute Sitte thut, dann wird sie vernommen und bestraft. Und da, wo die Vernehmung is, da gerade saß Schmolle . . ."
„Merkwürdig. Aber davon haben Sie mir ja noch nie 'was erzählt. Und Schmolle, sagen Sie, war mit dabei? Wirklich, sehr sonderbar. Und Sie meinen, daß er gerade deshalb so sehr anständig und so solide war?"
„Ja, Corinna, das mein' ich."
„Nun, wenn Sie's sagen, liebe Schmolle, so will ich es glauben. Aber ist es nicht eigentlich zum Verwundern? Denn Ihr Schmolle war ja damals noch jung oder so ein Mann in seinen besten Jahren. Und viele von unserem Geschlecht, und gerade solche, sind ja doch oft bildhübsch. Und da sitzt nun Einer, wie Schmolle da gesessen, und muß immer streng und ehrbar aussehen, bloß weil