Heft 
(1892) 70
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Die Influenza.

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den europäischen Händlern benutzt werden dürste, erscheint es fast nothwendig, daß der Kaukasus, der Mitte October durchseucht wurde, die zweite Etappe bil­dete. Die weiteren Fortschritte waren schnelle. Um die Mitte des October war die Epidemie nördlich bis Wjatka und bis Tomsk vorgedrungen, und gleichzeitig hatte ihr der Schienenweg den Gang nach Moskau vorgeschrieben, während der Schiffsverkehr sie auf die natürlichste Weise in die Krim führte. Von Moskau ging's Ende October nach Petersburg, wo sie sicher mehr als die Hälfte der Ein­wohnerschaft befiel. Mitte November war Warschau bereits erreicht, wohin die Verschleppung durch ein aus Südrußland zugereistes krankes Mädchen geschah. Als die Petersburger Epidemie auf dem Gipfel war, also an der Scheide des November und December, wurden die ersten Krankheitsfälle in Berlin bekannt. Welch ungeheure Ausdehnung die Seuche hier nahm, wie sie den Verkehr lähmte, Handel und Wandel schädigte, die Geselligkeit brach legte und schließlich eine allgemeine panische Furcht hervorrief, das ist noch frisch in Jedermanns Erinne­rung. Um eine Ziffer zu bringen, an der man die Ausbreitung der Seuche er­messen kann, so fehlten nach einer amtlichen Zählung am 7. Januar 1890, also zu einer Zeit, wo die Krankheit schon in der Abnahme war, von 170318 Schul­kindern noch 11532. Die Sterblichkeit war in der Woche der Jahreswende zweidrittel mal größer als in normalen Zeiten! Uebrigens ist in diesem Punkte Berlin noch verhältnißmäßig günstig gestellt gewesen. Denn um dieselbe Zeit war in Wien die Mortalität doppelt, in London und Paris sogar zweiundein- halb Mal so groß als sonst, und in Amsterdam erreichte in der dritten Januar­woche die Sterblichkeit den dreieinhalbfachen Betrag der gewöhnlichen Ziffer! Das waren Verhältnisse, die Wohl den allgemeinen Schrecken erklären können, welcher damals die Bevölkerung ergriffen hatte.

Die obigen Angaben über die Sterblichkeitsziffer beziehen sich ans den Höhe­punkt der Seuche. Da derselbe gesetzmäßig etwa vier bis fünf Wochen nach Be­ginn der Epidemie eintritt, so folgt schon aus der Gleichzeitigkeit derselben für Berlin, Wien, Paris und London, daß der Anfang der Influenza für alle diese Städte fast zur selben Zeit gewesen sein müsse. Das bestätigen auch directe Daten. Anfang December war demnach ganz Mitteleuropa ergriffen; es folgten Spanien und Portugal aus dem Fuße. Dann erschien, einige Tage bevor noch ans Italien die ersten Meldungen kamen, der unerwünschte Gast um die Mitte des Decembermondes in Newyork, und von hier aus wurde in schnellem Laufe der bis dahin gänzlich intacte Norden und Süden Amerika's durcheilt. In­zwischen war in Europa außer Italien um die Weihnachtszeit auch Griechenland befallen, und von hier aus zog die Influenza, die sonst von Ost nach West ihre Ausbreitung zu nehmen Pflegt, rückwärts und in langsamerem Tempo nach Con- stantinopel, von wo sie im Februar 1890 nach Persien ging. Dort war Teheran der Ausgangspunkt. In Persien ließ man kräftig zu Ader, unddie Patienten starben und niemand fragte, wer genas?" Ende Februar waren Ostindien, Nord­afrika, Capstadt, Mitte März Neuseeland und Australien, Anfang Mai die Gold­küste, im Hochsommer Japan und Island, im September die Azoren ergriffen. Der Weg von Ost nach West ist zwar im Anfang, aber nicht im weiteren Ver-