Heft 
(1892) 70
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Deutsche Rundschau.

die Hände eines Stümpers gefallen, unter der dicken Uebermalung kaum die ur­sprünglichen, reinen und edlen Conturen noch zu erkennen vermag.

Das Charakteristische für diese Bearbeitungen ist das Verwischen oder gänz­liche Tilgen aller feineren Züge zur psychologischen Motivirung, das Heraus­arbeiten der die Nerven kitzelnden Scenen von Mord und Gewaltthat, das Herabzerren des Komischen in den Schlamm der geist- und witzlosen Zote, stellen­weise auch das Einfügen neuer Figuren und Auftritte, die zu weiteren Versün­digungen in dieser Richtung Gelegenheit geben. Schließlich bemerken wir auch hin und wieder eine Neigung, Scenen, die im Original nur dazu dienen, der Haupthandlung zu secundiren, die Hauptwirkungen vorzubereiten, breit aus­gesponnen in den Vordergrund zu rücken, z. B. da, wo sich die Möglichkeit zur pomphaften Entfaltung einer Staatsaction ergibt.

Von Shakespeare's Dramen sind uns in deutscher Sprache so im Wortlaut drei erhalten. Den Titus Andronicus, der in einem Druck von 1620 vorliegt, rechne ich nicht hierher; denn diese Fassung ist jedenfalls nicht unmittel­bar aus Shakespeare geflossen. Dagegen haben wir aus der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts stammende Handschriften vom Kaufmann von Venedig (Wien und Karlsruhe), von Romeo und Julia (Wien) und vom Hamlet.

Vom Hamlet, der uns hier allein interessirt, ist allerdings die Handschrift jetzt als verloren anzusehen. Wir können diesen Verlust aber verschmerzen, da sie uns in einem, wie es scheint, mustergültig getreuen Abdruck aus dem Jahre 1781 erhalten ist. Diese Handschrift,Tragödia, der bestrafte Bruder­mord, oder: Prinz Hamlet aus Dänemark", trug auf dem Titel den Vermerk:Pretz, den 27. October 1710". Daß diese Zeitangabe sich aber nur auf den Termin beziehen kann, an dem die Niederschrift, nach einer älteren Vor­lage, hergestellt wurde, daß die Bearbeitung selbst aus dem siebzehnten Jahr­hundert stammen muß, das habe ich bereits vor einigen Jahren an anderer Stelle nachzuweisen versucht ^).

Aus dem Umstande nämlich, daß die Schauspielerscene in dem deutschen Hamlet eine vom englischen Original ganz abweichende Gestalt zeigt, daß in ihr ein mit Namen genannter Principal einer Compagniehochteutscher Comödianten", Principal Carl", das Wort führt, ein Mann, der als historische Persön­lichkeit für die sechziger und siebziger Jahre des siebzehnten Jahrhunderts Lhatsächlich nachweisbar ist, sowie ferner aus dem Umstande, daß in seinem Ge­spräch mit Hamlet weibliche Mitglieder der Gesellschaft erwähnt werden, deren Vorkommen erst seit der Mitte der fünfziger Jahre urkundlich verbürgt ist, folgerte ich damals, daß auch die übrigen Theile dieser uns vorliegenden Hamletredaction ihre Fassung erhalten hätten circa zwischen 1660 und 1680, und daß das Ganze, worauf auch aus sprachlichen Gründen zu schließen, auf norddeutschem Boden entstanden sei.

Angesichts dieser Ergebnisse, die in der Folge auch von Anderen bestätigt und ergänzt wurden, lag es nahe, die Hauptschuld an der Verballhornung des

0 In der Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte. Herausgegeben von Koch und Geiger. Neue Folge. Bd. I, S. 613. 1387. Vgl. auch Creizenach a. a. O. S. 127 ff.