Heft 
(1892) 70
Seite
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Wirthschafts- und finanzpolitische Rundschau.

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Das viele Nachdenken der Jetztzeit über wirthschaftliche S ch u tz m a ßreg eln ist kein Zeichen wirthschastlichen Wohlbehagens. Und diese Stimmung macht es erklärlich, daß man, in häuslichen Sorgen befangen, den wirthschastlichen Vorgängen in den Nachbarländern nachzudenken nicht in der richtigen Stimmung ist. Wie könnte sonst der Versuch Oesterreich-Ungarns, nun endlich seine Papierwährung los zu werden, und seine Zahlungen auf die solide Basis irgend einer Metallwährung zu stellen, am großen Publicum Deutschlands ziemlich spurlos vorübergehen! Gelingt dieser Versuch, so würde damit unseren Bimetallisten einer ihrer letzten Hoffnungsanker geraubt sein. Freilich liegen die Verhandlungen bis jetzt, trotz aller Versicherungen der Börsenpreffe, die diese Versicherungen zu Stimulationen benutzt, noch in den Anfängen.

Während der Friedens-Dreibund in der wirthschastlichen Annäherung seiner Glie­der ein Friedenswerk im höchsten Sinne des Wortes vollbracht hat, stehen die Mächte des kriegerischen Zweibundes noch immer im Stadium des Liebeswerbens. Rußland hat vom französischen Markt die Ausnahme seiner neuen Anleihe erbeten, und dieselbe ist von der französischen Finanzwelt 7*/2sach überzeichnet worden. Als die so viel begehrte Anleihe unmittelbar darauf im Curse sank, wurde freilich klar, daß die Ueber- zeichnung bloß ein Höflichkeitsbeweis war. Den Voranschlag für das neue Etatsjahr hat jetzt Wischnegradsky mit dem Eingeständniß eines Desicits von 75 Millionen Rubel begleitet. Zur Stunde weiß noch Niemand zu sagen, wie hoch das Deficit thatsüchlich sein wird. Der Geldwerth des russischen Rubels, welcher zu Anfang des Jahres 1891 noch auf 2,39 Mark stand, zeigt zu Anfang des laufenden Jahres nur noch die Höhe von 1,99 Mark. Rußland ist trotz Allem immer noch ein reiches Land, insofern es noch unerschöpfte Hülfsquellen hat. Aber die Kreditfähigkeit eines Staates hängt ebensowenig wie die des Einzelnen bloß von dem Reichthum ab, den er besitzt, sondern auch von der Art, wie er ihn verwaltet, und von den Garantien, welche Charakter und Moralität des Besitzers sür die richtige Verwendung des Credits geben.

Ueber die neue wirthschaftliche Abschließungspolitik Frankreichs, das damit das Siegel gedrückt hat auf seine Demission von der zollpolitischen Führerrolle, die dasselbe früher in Europa vertrat, werden wir demnächst zu sprechen Gelegenheit nehmen.

Daß Frankreich und Deutschland wirthschaftlich auf einander angewiesen sind, daß gegenüber den drohenden Zusammenballungen der russischen, der anglikanischen, der panamerikanischen Wirthschaftsgemeinschaft selbst ein mitteleuropäischer Zollbund auf die Dauer nur genügen würde, wenn er sich durch Zutritt Frankreichs zu einem west­europäischen erweiterte, das Alles sind Gedanken, welche man heute kaum mehr zu denken wagt, weil man Deutschland und Frankreich sich nicht anders, denn als feindliche Brüder vorstellen mag. Aber es hat eine Zeit gegeben, in der man anders dachte, und es wird eine Zeit kommen, in der man wieder anders denken wird. Als Deutschland und Frankreich im Jahre 1871 ihren Frieden schlossen, da glaubte zwar Niemand die politische Eifersucht damit begraben- Aber in wirthschastlichen Dingen hatte man die Einsicht, sich gegenseitig sür ewige Zeiten das Recht der meistbegünstigten Nation zuzusichern. Und mitten in den Gegensätzen, die sich in den seit damals ver­flossenen beiden Jahrzehnten immer mehr zugespitzt haben, steht noch heute die Meist­begünstigungsklausel des Frankfurter Friedens, zu beiden Seiten der Vogesen gleich werthgeschäht, da; der einzige Ueberrest einer Anschauung, welche wirthschaftliche An­näherung der beiden Völker erstrebte, und der einzige Anknüpfungspunkt für eine An­schauung, welche sie später einmal wieder erstreben wird.

Die gesummten finanzpolitischen Ereignisse der serneren Länder zeigen ein über­einstimmend böses Gesicht. Die portugiesische Eifenbahngesellschaft ist nicht im Stande, ihren Gläubigern die fälligen Zinsen zu zahlen, und der Staat, welcher die Garantie dafür übernommen hat, ist in der gleichen Lage. Für das also eingetretene Verhält­nis hat man den NamenMoratorium" ersonnen, da es in der europäischen Staats­sprache nicht üblich ist, im eigenen Lande von einem Staatsbankerott zu reden. In Spanien zeigt der exorbitante Stand des Goldagios, daß sich dort ähnliche Ereignisse