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Deutsche Rundschau.
erlesenen jeder Gattung entwickelt sich als die natürliche Folge der wechselseitigen Anziehungskraft, welche solche Naturen aus einander ausüben. Das Leben eines einzigen solchen Mannes verflicht sich mit Ereignissen und Menschen, die in die weitesten Kreise des allgemeinen Interesses hinüberreichen, und darin liegt dann der Grund der Theilnahme, die eine Darstellung ihres Lebensganges erweckt.
Hier mögen nur einzelne Episoden angedeutet werden, welche den Reiz des Buches den Lesern dieser Zeitschrift nahe bringen wollen.
Die erste Anknüpfung mag für die Leser darin liegen, daß kein Andrer als Gottfried Keller in seinem „Grünen Heinrich" Heule als seinen Lehrer in der Anatomie und Anthropologie (ohne den Namen zu nennen) schildert. Die Art, wie er ihn darstellt, hebt ihn unmittelbar als eine ungewöhnliche Erscheinung heraus. Im vierten Bande des großen Romans (in der ersten Ausgabe S. 44 ff., in der neuen von 1880, S. 9 ff.) erzählt Keller, wie er in München durch einen befreundeten Studirenden der Medicin in den Hörsaal des großen Anatomen geleitet wurde, um sein Bedürfniß nach anatomischer Erkenntniß für die Zwecke seines Malerberufes zu sättigen. Was der Dichter nach München verlegt und in die Ausbildung für den Malerberuf, das geschah in Wirklichkeit in Heidelberg (1848) zu einer Zeit, da Keller bereits zum zweiten Male seine Heimath verlassen hatte und zur Ausbildung in einem allgemeineren Sinne. „Auf mich," erzählt Keller, „wirkte schon die erste Stunde so, daß ich den Zweck, der mich hergeführt, und Alles vergaß und allein gespannt war auf die zuströmende Erfahrung . . . Aber nachdem der Lehrer die Trefflichkeit und Unentbehrlichkeit der Dinge auf das Schönste geschildert, ließ er sie unvermerkt in sich selbst ruhen und so ineinander übergehen, daß die ausschweifenden Schöpfergedanken ebenso unerwartet zurückkehrten und in den geschlossenen Kreis der Thatsachen gebannt wurden. Und wo ein Theil noch unerklärlich war und in die Dämmerung zurücktrat, da holte der Redner ein Helles Licht aus dem Erklärten und ließ es in jene Dunkelheit glänzen, so daß der Gegenstand wenigstens unberührt und jungfräulich seiner Zeit harrete, wie eine ferne Küste im Frühlichte", u. s. w. „Ich wurde," sagt Keller
dann weiterhin, „von Wohlwollen gegen den beredten Lehrer erfüllt, von dem ich nicht gekannt war-" In der Thai war der Dichter dem Gelehrten bekannt und zwar bereits aus früheren Jahren, da er ihm in Zürich bei einem gemeinsamen Freunde, gelegentlich von Heulens Hochzeitsreise im Frühjahr 1846, begegnet war; freilich lautet das Zeugniß davon in Henle's Reisetagebuche: „Für uns war es ziemlich dasselbe,
ob ein junger zahmer Bär oder Poet mit uns zu Tische saß, denn außer einigem un- articulirten Gebrumme bekamen wir nichts von ihm zu hören."
Die Episoden aus Heulens Leben, die wir hier herausheben möchten, sind in der
Reihenfolge seiner Lebensabschnitte die Berlinische, die Zürcherische, die Heidelberger, endlich die Göttingische.
In Berlin begann er als Gehülfe feines Freundes und Lehrers Johannes Müller im Frühjahr 1833. Er war ein Jahr zuvor nach Berlin gekommen, um das medi- cinische Staatsexamen abzulegen; Johannes Müller war jetzt an die Universität auf Rudolphi's Lehrstuhl berufen, und Heule wurde sein Prosector. Beide wohnten im selben Hause am Kupfergraben, Heule als Chambregarnist bei der Wittwe des Philosophen Hegel; Müller hatte die Etage eine Treppe höher gemiethet. Die Bewerbung um die Lehrstelle bei der Kunstakademie scheiterte; jetzt suchte sich Heule durch die Habilitation bei der Universität schadlos zu halten. Indessen hier trat ihm ein noch größeres Mißgeschick in den Weg. Er erhielt den Bescheid vom Unterrichtsministerium, daß seinem Gesuche um Zulassung als Privatdozent nicht gewillfahrt werden könne, da er bezichtigt sei, Mitglied des engeren Vereins der Burschenschaft gewesen zu sein; ob es thunlich sei, ihn unter diesen Umständen als Prosector noch weiter fungiren zu lassen, das müsse das Ministerium von dem Gange der bevorstehenden gerichtlichen Untersuchung abhängig machen.
Es schien, als solle ein Ruf an die Universität Dorpat ihn aus dieser schwierigen Lage befreien; aber eben diese Berufung wurde durch die Burschenschaftsaffaire ver-