Heft 
(1892) 70
Seite
473
Einzelbild herunterladen

literarische Rundschau.

473

dorben. Und vollends dauerte es nicht lange, daß die drohende Gefangensetzung Wirk­lichkeit wurde; am 2. Juli 1835 holte ihn die Polizei in aller Frühe aus dem Bette. Frau Hegel war verreist, nur die alte Magd war zu Hause. Diese schämte sich für ihren Miether, als er im Morgengrauen abgesührt, als die Siegel an seine Effecten und an die Stubenthür angelegt wurden; daher hängte sie eine Schürze über die Thürklinke und gab den besuchenden Freunden hartnäckig den Bescheid, der Herr Doctor sei ausgegangen. Als erst durch Johannes Müller Henle's Unglück in weiteren Kreisen bekannt geworden war, ging es wie ein Lauffeuer durch die Stadt und Alles wett­eiferte, ihm seine Leidenszeit erträglicher zu machen, nachdem er in den ersten Tagen der Gefangenschaft geradezu abgeschnitten von der Welt gewesen. Den angestrengten Bemühungen der Freunde, zumal Alexander von Humboldt's und Gustav Magnus', gelang das Unerhörte, daß er bereits am 28. Juli freigelassen wurde. Es war ein Triumphzug; man benutzte den Anlaß in weiten Kreisen, um seiner Empörung über diese Verfolgung lebhaften Ausdruck zu geben. Die Gattin Johannes Müller's schrieb darüber:Mich hat diese Geschichte wie Alles, was jetzt derart im Werke ist, weniger erschreckt als empört. Diese Meinung ist ziemlich allgemein. Der Sohn des Professors und Geheimraths Bock, der eben sein Dienstjahr abmacht, auch Doctor ist, den hat man am Hellen Tag mit vier Soldaten und einein Hauptmann nach der Hausvogtei abgesührt. Entehrendes ist gar nicht mehr dabei, die Schande fällt all' auf die­jenigen, welche den Zeitpunkt zu benutzen wissen, um durch Niederträchtigkeit empor­zusteigen. Wie kühn man hier schimpft, das glaubt Ihr wohl gar nicht an Eurem Rhein."

Johannes Müller sagte zu Heule, seine vier Wochen Hausvogtei hätten ihn mehr vorwärts gebracht, als wenn er ein dickes Buch geschrieben hätte. Humboldt fuhr mit galonirtem Bedienten bei Heule vor und kletterte die Treppen hinaus, um dem entlassenen Gefangenen demonstrativ seinen Besuch zu machen. Selbst der Minister von Kamptz, der stets schlau berechnete, was er that, ließ sich Henle's Popularität nicht entgehen. Als er ihm eines Tages Unter den Linden begegnete, hielt er ihn an und ging länger als eine Stunde mit ihm dort auf und ab. Er konnte dabei nicht genug versichern, wie sehr er von der Unschuld der armen Burschenschafter überzeugt sei, daß die Sache gar nicht so schlimm gekommen wäre, wenn man ihm, dem Minister des Innern, statt dem Kammergericht, die ganze Sache überlassen hätte. Er sei durch Erfahrung überzeugt, daß die ehemaligen Burschenschafter immer die ausgezeichnetsten Beamten geworden seien; es seien gerade die trefflichsten, geistig thätigsten jungen Männer u. s. w- Der Spaziergang der Beiden verfehlte natürlich nicht, das be­absichtigte Aussehen zu machen, ohne indessen den beabsichtigten Erfolg zu haben.

Die Sache selber war damit keineswegs zu Ende. Im April 1836 wurde Heule seines Amtes als Profector enthoben und am 5. Januar 1837 das gerichtliche Er- kenntniß publicirt, welches auf sechs Jahre Festung, Cassation und Unfähigkeit zur Bekleidung staatlicher Aemtcr lautete. Erst am 2. März 1837 erfolgte die Be­gnadigung als Frucht der unablässigen Bemühungen von Humboldt, dem Minister Altenstein, dem Kronprinzen selber.

Die Wohnung bei Frau Professor Hegel hatte er im October 1835 verlassen, um in das scherzhaft sogenannte Hotel Hilgendorf, Friedrichstraße Nr. 66, mit Freunden gemeinsam hinüberzuziehen. Hier kamen die Jahre epochemachender Forschung; hier erkannte er, seiner Zeit vorauseilend, die parasitäre Natur der Krankheiten und ver- theidigte sie mit zwingender Logik. Heute erst, nach den Bemühungen Koch's und anderer Forscher, die Parasiten allenthalben wirklich sichtbar zu machen, versteht man Henle's Deductionen vollständig zu würdigen. Im Sommersemester 1838 begann Henle als Docent auszutreten; trotz großer Lehrersolge überzeugte er sich, daß er keine Aussichten aus Beförderung an der Berliner Hochschule habe. Was er darüber in jenen Tagen schreibt, ist lehrreich für die damaligen Zustände der Universität.Der Grund, daß ein Jüngerer hier nichts zu hoffen hat, liegt darin, daß, so lange die Universität hier besteht, eine Menge unfähige- Menschen sich umsonst oder gegen sehr