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Deutsche Rundschau.
geringen Gehalt angeboten haben, diesen oder jenen Posten zu bekleiden. Das thun sie nun zehn, sünfzehn Jahre lang. Dann wird einmal ein ordentlicher Gehalt frei, von dem ein Mensch gelebt hat und auch der Nachfolger leben könnte. Nun sind zwanzig Leute da, die haben zehn Jahre umsonst oder für zweihundert Thaler die Stelle bekleidet. Die Leute sind deshalb nicht arm, sie sind noch außerdem Geheime Medicinalräthe, Mitglieder von drei Examinations-Commissionen u. s. w. Man weiß, daß man nichts an ihnen hat, aber es sind Leute, die man nicht umgehen kann. Der freie Gehalt wird unter sie vertheilt, und es bleibt nichts oder hundert Thaler übrig, die man dem jungen Manne gibt, der die vacante Stelle erhält und die Hoffnung, bei dem nächsten Todesfall auch unter die zu Berücksichtigenden zu kommen . . .
Bei solchen Aussichten in Berlin selber war die Berufung an die junge Hochschule Zürich, die er im Jahre 1840 erhielt, eine ersehnte. Die Schwierigkeiten dieser Stellung, die bekanntermaßen immer für einen deutschen Professor in der Schweiz vorhanden sind, traten damals gesteigert auf durch die kaum beendeten Wirren, die an die Berufung von David Strauß sich anschlossen. Es stellte sich für ihn und seine Collegen je länger je mehr heraus, daß die regierende konservative Partei der Hochschule nicht wohl wolle, da diese wesentlich aus liberalen Elementen bestand, auch als Mittelpunkt der zahlreichen Radicalen, die aus Deutschland geflüchtet, betrachtet werden konnte. Wo es ging, wurde ein Schweizer von der herrschenden Partei in eine Professur eingeschoben, ob qualificirt oder nicht; war keiner auszutreiben, dann ließ man die Stelle ganz unbesetzt. Alle Augenblicke fragte man, ob die Hochschule den Aufwand wohl Werth sei. Die beiden Parteien, die sich noch in frischem Haffe gegenüber standen, zerrten beide an den deutschen Professoren herum und verargten ihnen ihre unparteiische Stellung, die ihnen doch von Hause aus und nach dem Wesen der Sache zur Pflicht gemacht war. Als Henle zu Ende des Jahres 1842 einen Ruf nach Tübingen erhalten, gab er diesen Beschwerden unverhohlenen Ausdruck. Dennoch blieb er für diesmal in Zürich, weil so vieles Andre, insbesondere die enge Freundschaft zu einzelnen Fachgenossen, ihn fesselte. Doch nicht mehr lange; ein wiederholter Ruf nach Heidelberg entführte ihn im nächsten Jahre zusammen mit seinem Freunde Pfeufer dorthin.
Hier schlingt sich nun an die Uebersiedlung ein Stück wunderbarer Romantik, um dessentwillen allein man das Buch aufschlagen muß. Die Liebe zu einem schönen Kinde aus dem Volke, das er im Hause seines Collegen Löwig in Zürich kennen gelernt, das er dann auf den neuen Boden in Heidelberg hinüberführt und zu seiner Gattin macht, um das schöne Wesen nach wenigen Jahren durch den Tod zu verlieren. Berthold Auerbach, damals auch in Heidelberg lebend und Henle befreundet, hat darin das Urbild einer seiner Dorfgeschichten gefunden, freilich nicht zu Heulens Erbauung; er schreibt darüber: „Wirklich empört hat mich die Art, wie Auerbach meine tragische Ehe fast nur zu Schmuck und Nebenwerk verwendet."
War er von Zürich fortgegangen in einem Augenblicke, „da auis Neue der brutalste Fremdenhaß hier ausgebrochen ist und die Professoren in einer Weise öffentlich geschimpft werden, daß man seinen Abschied nehmen würde, wenn man ihn nicht schon hätte" — so sollte er in Heidelberg dafür die Gunst akademischen Zusammenlebens Vermissen, deren er sich in Zürich erfreut hatte. „Unter diesen alten Scharteken," schreibt er, „heimisch zu werden, wäre eine Degradation; hier bleibt nichts übrig, als das Alte welken zu lassen und eine neue Colonie zu gründen; Alles, außer den Wohnungen und Weinbergen der alten Herren, ist in einem erbärmlichen Zustande".
In die durchgreifenden Erfolge, welche Henle's Lehrthätigkeit für das medicinische Studium von Heidelberg hatte, brach die revolutionäre Bewegung herein, zu welcher er mit den befreundeten Gewinns, Häusser, Jolly u. A. Stellung nahm. Daraus folgte dann das Mißbehagen der Reactionszeit, das besonders der Universität Heidelberg bemerkbar wurde. Die Partei der Alten trug das Haupt wieder hoch; die engherzigen Maßregeln der Regierung unterbanden das Leben der Hochschule; ein einziger Erfolg für das medicinische Studium war die Berufung des Chemikers Bunsen. Im