Heft 
(1892) 70
Seite
475
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Literarische Rundschau.

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Jahre 1852 ging Pfeuser nach München, Henle nach Göttingen. Hier ist es, wo Henle dreiunddreißig Jahre lang gewirkt hat, wo er gänzlich heimisch geworden ist, wo er, nach einer glorreich vollendeten Lausbahn, inmitten des Vollgenuffes seiner geistigen Kraft gestorben ist. Hier namentlich ist er ganz hineinverwachsen in die Eigenart der Verhältnisse und hat sich darin durchaus glücklich gefühlt.

Ich scheide nun," schreibt er bei seiner Uebersiedelung nach Göttingen,zum zweiten Male aus einer herrlichen Gegend mit Bedauern, daß sie nicht von besseren Menschen bevölkert ist, und werde mit etwas Sand und Wiesen sürlieb nehmen, um einmal wieder unter wissenschaftlichen Kollegen und unter einer Regierung zu leben, der man sich durch Eifer für die Anstalt, der man angehört, nicht widerwärtig macht." Die Kollegen," schreibt er nach seiner Ankunft an seinen Freund Pfeuser in München,sind lauter ausgeschlagene Encyklopädien; sie sind alle so tugendhaft und fleißig, wie ich hier zu werden hoffe, weil man zu nichts Andrem Gelegenheit hat. Die Stadt ist Wohnung für so viel hundert Studenten nebst deren Lehrern; sie enthält die nöthigen Stiefelputzer, Schneider, Schuster, Speisewirthe rc. rc., um die Universität zu bedienen, und einen Bürgermeister und vier Gensdarmen, um diese Bürger zu regieren. Allemal mit dem Stundenschlag, wenn eine Vorlesung aus ist, wird es etwas lebendig auf den Straßen; um zwölf Uhr wird es geräuschvoll, weil zu den heimeilendeu Männern noch Scharen von Mägden mit Menagen in Körben kommen, einmal obenauf Preißelbeereu, den andern Tag gekochte Pflaumen. Wagen hört man fahren, wenn ein Ball gegeben oder ein Professor begraben wird. Um vier Uhr stürzt Alles auf den Wall und läuft ein- bis zweimal um die Stadt herum ..."

Mit diesen und manchen andren Sarkasmen, die gleich so vielen vor ihm und nach ihm, dem in Göttingen neu Einziehenden das gepreßte Herz erleichtern mußten, hat Henle dann doch bereits im Sommer 1853 sich ein Haus am Walle gekauft, in dem er auch sein Leben beschlossen, hat er nach nicht langer Zeit als einer der hauptsächlichen Träger des alten Göttingen gegolten. Die typischen Diners, mit der Einen Kochsrau und dem Einen Lohndiener und dem ewig wiederkehrenden Braten­toaste, die er am Anfang verspottete, hat er zuerst über sich und dann über Andre ergehen lassen, nur daß er sie mit einem reichlichen Körnlein attischen Salzes gewürzt an Stelle der landesüblichen Langenweile. Die Anwandlungen von Sehnsucht nach größeren Verhältnissen, nach der Schönheit des Südens, wurden immer seltener; aus den Bemühungen Pseuser's für München wurde nichts; ein ehrenvoller Ruf an die Universität Berlin für ihren einstigen Privatdocenten im Juni 1858 wurde abgelehnt, obwohl ihm Pfeuser zugerusen:Für einen Kerl von Deinem Geist ist es ein- für allemal schade, wenn er an der Leine alt wird." Er antwortet diesem:Ich hänge an Göttingen; ich habe mich vom ersten Augenblicke an hier Wohl befunden; jede Veränderung, die seitdem eingetreten ist, hat dazu gedient, meine Lage behaglicher zu machen . . . Die große Stadt und ihre mannigfachen Berührungen haben für mich nicht den Reiz, wie für Dich; es ist vielleicht schon eine Folge kleinstädtischer Ver­kommenheit, daß mir das Gewühl unbekannter und gespreizter Menschen einen un­angenehmen Eindruck macht, und daß ich an dem ruhigen Mechanismus, in welchem unser Leben im Schatten unserer eigenen Bäume mit ein paar alltäglichen Freunden sich abspinnt, mehr Behagen finde. Außerdem darfst Du Göttingen nicht mit jeder beliebigen kleinen Stadt vergleichen . . . Göttingen ist mehr ein Landsitz für eine Anzahl Professoren und Studenten, als eine kleine Stadt."

In Göttingen war es nun, wo durch mehr als drei Jahrzehnte sich die forschende und lehrende Wirksamkeit des Meisters in Ruhe entfaltete, deren Einzelheiten und Triumphe zu verfolgen, der Lectüre des Buches selber Vorbehalten bleiben mag.

X.