Are Kungersteine.
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„Dazu finden Sie auch noch Zeit, Fräulein Johannas"
Mit leisem Schreck bemerkte er, daß sie bei dieser Anrede errötet war und stumm und eifrig fortstrickte.
„Bitte, Herr Doktor," sagte sie nach einer Weile leise, „nennen Sie mich doch nicht ,Fräulein'. Ich komme mir gar nicht wie ein ,Fräulein' vor als Felixens Mutter."
Er verneigte sich. „Verzeihen Sie," murmelte er verlegen. Eine kurze Pause entstand, in der er nur die Nadeln eifrig klappern hörte. Dann sagte sie ruhig: „Und Sie sind fort vom Gericht, Herr Doktors Damals — in Göttingen — hatten Sie Lust, zur Staatsanwaltschaft zu gehn, nicht wahrs"
„Jawohl. Aber, sehn Sie... ich Hab' in der Praxis ein paar Fälle erlebt... nein! Solange wir so im Dunkeln tappen, fühl' ich mich zum Ankläger nicht berufen."
Sie nickte ihm herzlich zu. „Wenn man den Menschen doch in die innerste Herzkammer hineinleuchten könnte," scherzte sie. „Und da wollen Sie also Rechtsanwalt Werdens"
„Ja. Ich denke, das liegt mir besser. An Leuten, die mit wahrem Vergnügen und streng nach dem Buchstaben die Böcke herausspüren und ans Messer liefern, damit die brave Herde der Wohlhabenden und deshalb Wohlgesinnten ungestört weiden und Wiederkäuen kann — an denen ist ja kein Mangel."
„Nein," murmelte sie, und ihr freundliches Gesicht verfinsterte sich; „angeklagt und verurteilt wird einer schnell. Jeder glaubt ja lieber das Böse vom andern."
„Und, sehn Sie, ich gehöre zu den komischen Käuzen, die sich einbilden, die meisten Menschen wären lieber gut als schlecht, wenn sie nur dürften. Einfach, weil glücklich' und ,gut sein', das heißt nach den Gesetzen der Natur und der Gesellschaft leben, für mich ein und dasselbe ist."
„Ja," stimmte sie zu, „es wird ja manchem geradezu unmöglich gemacht, sich durchs Leben zu schlagen, ohne daß seine Nachbarn rechts und links Püffe und Stöße abkriegen. Wenn man weiß, wie die armen Leute oft leben . . . eingepfercht wie die Heringe, manchmal keinen Bissen Brot im Hans, und jeder schnauzt sie an und nutzt ihre Not aus — da ist's ja kein Wunder, wenn sie sich mit Gewalt nehmen, was ihnen freiwillig keiner giebt. Ein bißchen Glück, ein bißchen Wohlleben will doch jeder haben. Gott! Und oft die kleinen Vergehen — und die harten Strafen!"
Er merkte, sie sprach für sich selber, indem sie eine allgemeine Bemerkung auszusprechen schien. Anne Mimose, dachte er, was magst du ausgehalten haben!
„Strafen!" rief er. „Ja, das ist auch so ein Kapitel. Wir sind allzumal Sünder! Ueberhaupt — der, den die Strafe bessern würde, bei dem ist sie eigentlich überflüssig. Bei dem wär' ein Erlaß seiner Strafe viel wirksamer."
„Und einer, bei dem sie nutzlos ist," warf sie mit traurigem Lächeln ein, „wozu packt man sie dem aufs"
Ueber Land und Meer. JK. Okt.-Hefte. XIV. 9.
„Ganz recht!" rief er, erfreut über ihr Verständnis. „Und sehn Sie, Johanna, wenn ich's unreiner Handvoll erspare, als,Gebrandmarkte' herum- zulanfen, wie mit einem Stein um den Hals —"
Johanna erhob sich und reichte ihm die Hand. „Sie sind ein guter Mensch," sagte sie herzlich.
Im Nebenzimmer ries ein verschlafenes Sümmchen: „Mama!"
„Da ist er doch wach, der Schelm," sagte Johanna lächelnd. „Er ist vorher über seinem Süppchen eingeschlafen. Sie müssen schon entschuldigen. Die Milch steht noch auf dem Feuer. Ein Viertelstündchen, und das Kerlchen ist abgesüttert und schläft wieder."
Johanna lief hinaus, und er lauschte in die dunkle Stube hinein, wo jetzt zwei weiche Stimmen dnrcheinanderklangen. Die Johannas war wie gesättigt von Zärtlichkeit; die des Kindes hell und golden wie Licht, süß und geheimnisvoll wie Vogelgezwitscher.
Dann trat Johanna wieder ein, auf dem linken Arm das Kind, das in einem rosigen Flanellkittel steckte, in der rechten Hand auf einem Brett Taffe und Milchtopf.
„Nun müssen wir dem Onkel etwas voressen," sagte sie fröhlich und unbefangen und setzte sich mit dem Kinde am Tisch nieder. Sie glich jetzt vollkommen der Photographie. Die letzte Spur von Bedrücktheit war verschwunden. Strahlend glücklich, stolz, frei, voll mütterlicher Würde machte sie sich mit dem Kleinen zu schaffen.
Felix saß steif und starr auf ihrem Schoß, ganz überwältigt in seiner kleinen Seele, wie es schien, von dem Wunder eines Besuchs. Er vergaß aber trotzdem nicht die Selbsterhaltungspflicht, ließ sich die Tasse an den Mund setzen und trank in langen, tiefen, zuweilen von einem Seufzer unterbrochenen Zügen.
Obgleich eben aus dein Schlaf und aus dem dunkeln Zimmer gekommen, blinzelte er doch nicht. Mit Huberts Augen, klar, fest, nachdenklich sah erden fremden Mann an; in göttlicher Unschuld und Unbefangenheit, ohne Scheu, aber auch ohne lächelndes Entgegenkommen.
So saßen sie eine Weile Auge in Auge, der große und der kleine Mensch. Endlich beugte sich Karl zu dem Kleinen hinüber und hielt ihm die Hand hin, in die Felix ohne Zögern sein weiches, rundes Händchen legte.
„Ausgeschlafen, kleiner Kerls" rief er lachend. „Das sieht ja aus, als sollt's in den Morgen gehn, statt in die Nacht."
„Leider ja," sagte seine Mutter, die leere Tasse niedersetzend. „Wir werden Schelte kriegen vom Papa."
Sie wollte ihn auf die Erde stellen, aber er hatte keine Lust und wehrte sich energisch. Da holte sie ihm seinen Baukasten, und er fing sogleich an, geschickt und mit spitzen Fingern die bunten Klötze zusammenznfügen.
Johanna begann wieder zu plaudern. Von i Göttingen, den alten Zeiten, die doch trotz aller
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