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Der schöne Hde.
große Garten, in dem man sich so gut verstecken konnte, ! das wüste, hügelige Terrain dahinter, auf dem sie all ihre ^ tollen Streiche ausgeführt. Dort warteten in später Nach- j Mittagsstunde die Freunde der Brüder, dort wurden „ge- striepste" Kartoffeln in der Asche gebraten und Pulverminen angelegt, dort spielten sich auch die grausamen Jndianer- kämpfe ab, in denen sie so oft als Squaw in den Wigwam irgend eines großen Häuptlings, des „Springenden Hirsches" oder der „Pantherklaue", entführt worden war.
Frau Käthe blickte lächelnd an dem eleganten Reisekleide nieder. Wie verwildert sie damals war! Keine Blauer war ihr zu hoch, keine Hecke zu dicht, kein Wagnis zu groß — sie that's fast den Jungens zuvor. Und um des Ansehens willen, das sie bei ihnen genoß, weil sie so gar nicht „wie ein Mädchen" war, ließ sie sich geduldig peinigen.
Dann auf einmal kam eine Zeit, da sie jedes neue Kleid darauf prüfte, ob es ihr „stehe", sich jeden Riß sorgfältig zustopfen ließ und an der Gartenthür heimlich die Zopfschleife in die Tasche steckte, damit es „Locken" würden.
Damals tauchte zuerst der schone Ede an ihrem Horizonte auf. Er poussierte ihre drei Jahre ältere Schwester Mieze, die nicht wenig stolz auf die Eroberung war. Regelmäßig stellte er sich nun mit den andern im „Drachenfels" ein, kam wohl auch einmal mit in den Garten, nachdem ihn der Vater als netten Jungen hatte gelten lassen.
Wie hübsch er war^ Und schon siebzehn und so groß, daß ihm die schlanke Meze nur bis zum Ohr reichte. Sie hatten's einmal lachend und neckend ausgemessen, während Käthe daneben stand und rot ward über die zwei.
Ach, diese Abende, wenn die Rosen glühten und der Bach unterm Zaun in kleinen, schluchzenden Wellen vorüberschaß. Wenn über ihnen die Sterne aufblitzten, die Jungens ihre Zukunftspläne entwickelten — sie wollten alle Seefahrer, Forschungsreisende werden und die seltsamsten Abenteuer bestehen — und sie selbst, das Kind mit den unentwickelten Gliedern und den großen, begehrlichen Augen, hinausträumte in eine wunderbare, schimmernde, märchenschöne Zeit.
Und dann, dann that sie den Schritt aus der Kindheit heraus. Früher als andre Kinder, wie sie immer im Denken und Fühlen ihren Jahren voraus war.
Die Ulmenecke — da war's. Wie genau sie sich des Abends erinnerte! Sie könnte sich noch malen in dem roten Kattunkleidchen, das sie, wie alle Schulkinder, der älteren Schwester „Nachträgen" mußte, mit dem Sammetband um den Hals und dem wirren Zopf.
Im Juli war's, so des Abends um neun.
Eben kam sie mit einem angebissenen „Knust" aus der Küche. Im Kiuderzimmer brannte schon die Lampe, und Mieze saß in ihrer Lieblingsstellung, beide Zeigefingerspitzen in den Ohren, am Tisch und „büffelte".
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„ll'Lurnis eteU schrie Käthe von der Thür her. Miezes Kopf flog, hochrot vor Zorn, herum, und ihre Hand tastete nach irgend einein Gegenstand, ihn dem naseweisen Ding an den Kopf zu werfen.
Dann besann sie sich eines Besseren:
„Willst du mir einen Gefallen thun?"
Käthe schob muffig die Unterlippe vor:
„Was denn?"
„Ach, du weißt schon!" Mieze sah verheult aus. „Ede wartet in der Ulmenecke, und ich darf nicht fort. . . das greuliche Französisch!" Das Buch bekam einen ingrimmigen Knuff. „Du könntest ihm das da bringen" — ein kunstvoll gefalteter Brief flog über den Tisch — „laß dich aber nicht erwischen."
Käthe schielte nach dem Briefe, rührte sich aber nicht.
Erst als sich von draußen Schritte näherten, griff sie nach dem Blatt und ließ es in die Tasche gleiten.
„Ich thu's aber nicht wieder, brauchst mich gar nicht wieder drum zu bitten ... es ist das letzte Mal."
Damit war sie zur Thür hinaus.
„Dummes Ding!" brummte Mieze noch hinterher, dann nah»! sie den Kampf mit den französischen Verben wieder auf.
Käthe war mit katzenartiger Gewandtheit an der eben eiutretenden alten Lehrerin vorüber die Treppe hinunter- gehnscht, dann blieb sie plötzlich stehen und stieg Stufe um Stufe zögernd wieder hinauf, schlich am Kinderzimmer vorüber in ihr eignes Stübchen und schob den Riegel vor.
Was sie dort wollte? Klar war's ihr selber nicht. Sie machte Licht und beleuchtete ihr Gesicht im Spiegel. Der greuliche Zopf! Mit einem Ruck hatte sie die verblichene Schleife herausgerissen und faßte das Haar hoch oben am Scheitel mit dem Sonntagsband. Daun hielt sie
Miezes heimliche Brenuschere übers Licht. Wie ein paar
Löckchen doch gleich verändern! Mieze betrachtete entzückt ihr Spiegelbild. Nur die Figur — schrecklich! Wie ein Bügelbrett! Aber da ließ sich nun einmal nichts dran ändern.
Noch ein paar Tropfen von Miezes ängstlich gehütetem Heliotrop, dann legte sie den Weg über Vorfaal und Treppe noch einmal zurück, wahrend ihr Herz klopfte, als wollte es zerspringen.
Mit durstigen Lippen sog sie draußen die Nachtluft ein.
Der Garten war schon tief dämmerig, nur die Lilien leuchteten wie Fackeln von den Beeten, und aus den Küchenfenstern fiel ein breiter Lichtstreif über den Weg.
Käthe umging ihn in großem Bogen, dann lief sie hastig die abfallenden Rasenflächen hinab, hie und da ihr Kattunkleidchen mit heftigem Ruck von den Büschen losreißend.
Da war die Ulmenecke.
Die Nlmenecke war der äußerste Winkel des Gartens, ein öder, auch am Tage halbdunkler Raum, auf der einen Seite vom Nachbarstaket, auf der andern von einer runden Weißdornhecke begrenzt, deren Eingang im Laufe der Jahre fast zugewachfen war. Von den „Großen" verirrte sich niemand hierher, der Platz war deshalb als letzte Zuflucht in der Not, als heimlicher Beratungs- und Aufbewahrungsort verbotener Schätze sehr beliebt.
Um die Ulme herum, die dem Winkel seinen Namen gegeben, lief eine verwitterte Holzbank, und darauf saß, ungeduldig den keimenden Schnurrbart zupfend, der schöne Ede.
„Du?"
Er gab sich nicht die mindeste Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen, als sich, statt der Erwarteteil, das Kind durch die Zweige schob.
Sie knitterte zornig den Brief in der Tasche, sagte aber nichts.
„Warum kommt Mieze nicht?"
„Sie muß noch nvoir und etre lernen!" Käthe lächelte höhnisch im Bewußtsein höheren Wissens, „sie kriegt's nicht in den Kopf."
„Du kannst's wohl schon?"
Er fragte eigentlich mehr, um etwas zu sagen, nicht aus Interesse an der Sache, aber sie griff's gierig auf.
„Ja, ich brauch's zu Hause kaum anzugucken, ich lese es in der Schule einmal durch, dann kann ich's schon!" Dann schämte sie sich, es klang so prahlerisch.
„Mieze kann aber besser zeichnen und singen."
Richtig — Mieze!
Sie holte den Brief aus der Tasche und trat an Ede heran.
„Da, das ist für dich, Mieze hat's mir gegeben!"
Wie er den Brief nahm, streifte er ihre Fiugerchen. Wie heiß sie waren! Auch ging ein betäubender Geruch von ihr aus, und die Stimme klang seltsam verhalten.