Freund, das ließ sich mit dem vorhandenen Material nicht anders machen. Begrüßenswert wäre es allerdings, wenn sämtliche Schmalspurgleise auf Normalspur umgebaut würden. Zweimal schon war ein solcher Umbau geplant, aber jedesmal scheiterte die Ausführung. 1924 konnte man sich im Kreistag über die Änderungen in der Linienführung nicht einig werden, 1939 machte der Krieg alle fortschrittlichen Pläne zunichte. Unsere Deutsche Reichsbahn hat zur Zeit noch wichtigere und dringendere Bauprojekte auszuführen, und so wird unser „Polio“ noch einige Jahre durch unsere Prig- nitz fahren. Wir erzählen von mancher Engstirnigkeit, die ihm das Leben schwer gemacht hat, aber auch vom Fleiß und von der Treue der Eisenbahner und von der Güte des Materials, aus dem Schienen und Lokomotiven hergestellt sind. Ein großer Teil der verhältnismäßig schwachen Schienen liegt seit 1897, also seit dem Baujahr, in den Gleisen. Auch die alten dreiachsigen Lokomotiven sind seit 1897 in Betrieb, ebenso ein großer Teil der Wagen. Das zeugt nicht nur von der Güte des Materials, sondern auch von der guten Pflege, die unsere Kollegen Eisenbahner ihrem „Polio“ und seinen Anlagen alle Zeit angedeihen ließen. 60 Jahre sind eine lange Zeit. Die Jungen, die während des Bahnbaues verbotenerweise mit den Kipploren die Berge hinabfuhren, die den vielen Bauarbeitern Bier, Schnaps und Tabak heranholten, manchen lustigen Streich und auch manchen Streit miterlebten, sind heute alte Männer. Die Zeit rückt unaufhaltsam vor. Was vor 60 Jahren als eine Errungenschaft gefeiert wurde, wird heute von vielen Zeitgenossen geringschätzig angesehen. Die Technik feiert immer neue und größere Erfolge. Eines Tages wird auch „Polio“ in den Ruhestand treten. Bis dahin bleibt er aber „unser Polio“.
Nun haben wir bei all unserem Erzählen kaum bemerkt, daß wir an Groß-Werzin und Ponitz vorbei sind und schon auf dem Bahnhof Kleinow halten. Hier verladet die Volkseigene Ziegelei Kleinow ihre so sehr begehrten und dringend benötigten Ziegelsteine. Vier beladene Normalspurwaggons auf Rollwagen, das sind niedrige vier- und sechs- achsige Schmalspurwagen, auf denen die Normalspurwagen stehen, werden hier angehängt. Fauchend geht die Fahrt mit der schweren Last weiter. Schnelle Kraftwagen überholen uns auf der Fernverkehrsstraße. Aus einem vollbesetzten Omnibus winken fröhliche, lachende Menschen unserem keuchenden „Polio“ zu. Die alte und die neue Zeit begegnen sich hier und grüßen einander. Doch sollte das Junge niemals vergessen, daß es aus dem Alten geboren wurde. Hinter dem Dorf Düpow mit der neuen großen MT-Station kreuzt die Schmalspurstrecke die früher sogenannte Prig- nitzbahn von Wittenberge nach Pritzwalk und Wittstock, und dann ist noch eine Steigung von 1 :70 zu überwinden. „Polio“ schnauft und sprüht Funken. Wenn wir genau hinhören, verstehen wir ganz deutlich, wie er stöhnt: „Kannt-nich-schaffen, kannt-nich-schaffen, kannt-nlch-schaffen!“
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