Heft 
(1892) 70
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Shakespeare's Königsdramen von Richard II. bis zu Richard III.

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Also dreht sich auch bei Shakespeare die Composition und das Verständniß nach alter Regel bei den Tragödien um die Fabel, wie Aristoteles es genannt, oder die Verknüpsung der Begebenheit, in der Komödie um die Charakteristik der Personen. Wenn daher Gervinus in seinem großen Buche über Shakespeare Alles dadurch zu erklären bestrebt ist, daß er die Charaktere der Stücke schildert, so erreicht er den Zweck, das Verständniß desselben zu fördern, meist sehr gut bei den Komödien, aber nicht bei den Tragödien.

Machen wir nun die Anwendung von diesen allgemeinen Betrachtungen auf die Dramen von den Königen, in denen ja ohne Zweifel, wenn man sie als Ganzes nimmt, die größte Mischung und Abwechselung von tragischen und komischen Elementen vorliegt, so ist zunächst Wohl klar, daß der Dichter dies große Werk seiner Jugend nicht von vornherein nach festen Plänen! und Absichten auf einheitliche tragische oder komische Wirkung angelegt, sondern ganz einfach den historischen Stoff, die Geschichte seines Landes kaum mehr als hundert Jahre vor seiner Zeit, auf die Bühne gebracht hat. In dem Stoff oder den historisch­politischen Betrachtungen, die sich etwa aus demselben ergeben, liegt aber trotz­dem ohne Zweifel nicht die wahre und bleibende Bedeutung und der Werth des Werkes. Vielmehr darin, daß sich nun unter der Hand seiner eminenten drama­tischen Begabung die bloße in Scene gesetzte Historie doch mehr und mehr zu großen und einheitlichen Darstellungen spannender Verwickelungen und origineller Charakterbilder gestaltete, und daß unwillkürlich schon einige rein classische Tra­gödien und Komödien daraus geworden sind, oder wenigstens Stücke, die zwar nicht ganz der einen oder anderen Art von Kunstwirkung entsprechen, aber doch auch eine Art von regelmäßigem Bau und einheitlicher Wirkung haben.

Wenn wir uns dies nun schnell au den acht Stücken der ganzen Reihe nacheinander klar machen wollen, so wird es zweckmäßig sein, dieselbe nicht in der historischen Folge vorzunehmen, wie sie im Buche stehen und erst recht des historischen Zusammenhanges wegen auf der Bühne aufgeführt werden müssen, um ein Ganzes darzustellen, sondern nach der Zeitfolge, in der sie von Shakespeare geschrieben sind. Das ganze Werk zerfällt in zwei Hälften, von je vier Stücken, von denen die eine das Aufkommen der einen, die andere das der anderen von beiden streitenden und nacheinander regierenden Linien des Königshauses, Lancaster und Jork, darstellt. Die Geschichte der Zork's aber, wenn sie die Lancaster's stürzen, und dann selbst wieder gestürzt werden, die Jork'sche Tetralogie, wie Gervinus sie nennt, ist zuerst entstanden, die Lancaster'sche, das Emporkommen und die glänzende Geschichte der zuerst regierenden Linie, erst später hinzugefügt.

II.

Den größten Theil der zuerst geschriebenen Hälfte, welcher die späteren Be­gebenheiten behandelt, bildet die Geschichte des unglücklichen Königs Heinrich's VI. aus dem Hause Lancaster, der durch das Haus Jork gestürzt wird, in drei Theilen oder selbständigen Stücken. Diese gehören zu den ersten Versuchen des Dichters, oder vielmehr sie sind wahrscheinlich gar nicht ganz von ihm verfaßt, sondern nur über- oder umgearbeitet. Besonders der erste Theil ist ein wenig bedeuten­des Stück und wurde deshalb auch selbst bei der zusammenhängenden Auf-