Heft 
(1892) 70
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Deutsche Rundschau.

führung des ganzen Werkes in Weimar ausgelassen. Er behandelt in ziemlich undramatischer Entwickelung die Geschichte des unglücklichen Krieges, in welchem die Engländer das zuvor von ihnen eroberte Frankreich wieder verlieren, aus welcher Schiller mit nicht allzu viel mehr Glück seine Jungfrau von Orleans gemacht hat, indem er sich umgekehrt auf die Seite der Franzosen stellte, die ihr Land wieder befreien. Das Stück ist trotzdem nicht ohne einzelne Schön­heiten, wie denn Schiller den Tod des großen Talbot, des englischen Feldherrn, offenbar angeregt durch dies Stück, zu einer Hauptscene seines Stückes gemacht hat. Gervinus führt überzeugend aus, daß Shakespeare wahrscheinlich vieles einzelne Schöne und Interessante in diesem ersten Theil von Heinrich VI. nur in ein altes Stück von einem anderen Verfasser hineingeflickt hat, um hernach die übrigen, die er hinzufügt, besser daran anknüpfen zu können, namentlich Alles, was sich hier schon auf die hernachfolgende Geschichte des Sturzes Heinrich's VI. bezieht.

Gervinus erklärt aber auch die beiden folgenden Stücke nur für eine drama- tisirte Chronik in zehn Acten. Darin kann ich ihm nicht beistimmen. Denn nach meiner Ansicht und Erinnerung von der Aufführung ist das erste dieser beiden Stücke, also der zweite Theil von Heinrich VI., ein Drama von großer einheitlicher Composition und Wirkung, das letzte freilich wieder nicht. Diese Composition und Wirkung beruht durchaus auf dem Gegensätze von zwei Charakteren, um die sich eine Menge Nebenpersonen ergänzend gruppiren, und ebenso auf einer sehr geschlossenen Geschichte, also aus beidem, wovon sonst die Wirkung in Komödien und Tragödien bedingt ist. Die Charaktere sind der schwache letzte König ans dem Hause Lancaster, Heinrich VI., und der energische Vertreter des Hauses Jork, der ihn in diesem Stücke vom Throne stößt, und das ist die Geschichte.

Heinrich VI., der Sohn des srühverstorbenen kriegerischen Heinrich's V., welcher Frankreich erobert hatte, war, neun Monate alt, in Paris zum König von England und Frankreich gekrönt.Dieser König der Wiege," sagt Dahl­mann,entwuchs seiner Wiege nie." Ein Schwächling an Körper und Geist, mußte er ein Werkzeug in den Händen seiner Vormünder, seiner Frau, seiner Hofleute und Günstlinge werden. Shakespeare hat es verstanden, ihm bei dieser dürftigen Natur doch auch Anlagen zu geben, die sich damit Wohl vertragen und doch geeignet sind, Achtung und Theilnahme zu erwecken, frommen Sinn, feines Gefühl und zuweilen selbst die Erhebung zu sittlichem Ernst, sittlicher Entrüstung und am Ende auch gerechter Entschließung, aber ohne consequente Durchführung und vor Allem immerzu spät". Jork dagegen, der Prinz der jüngeren Linie, die aber wegen ihrer Abstammung von einer Tochter einer älteren ein Erbfolgerecht vor dem der regierenden in Anspruch nimmt, der Sohn eines unter dem vorigen Könige Hingerichteten Vaters, erst kürzlich von Heinrich zu Gnaden wieder angenommen und in Ehren und Würden wieder eingesetzt, steht ihm trotzdem mit Ueberlegung, Energie und Schlauheit als künftiger Prätendent um die Krone gegenüber. Tapfer im Krieg, heuchlerisch am Hofe, ohne alle zarten Scrupel und Zweifel, kalt berechnend, wartet er seine Zeit ab und muß zuletzt im Trüben fischend obenauf bleiben. Aber auch ihm gibt Shakespeare, so