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Deutsche Rundschau.
er sich desto sicherer von dem Verdachte, der aus ihm lastet, reinigen soll. Sich selbst vergleicht er sinnig mit der Kuh, die zusieht, wie ihr Kalb zur Schlachtbank geführt wird. Er sieht also gut ein, was bevorsteht, und hat doch nicht den Muth, es zu verbieten. Die Andern machen kurzen Proceß und lassen den Herzog ermorden. Nun ist die Zeit sür Jork und seine Freunde gekommen. Während er sich aus der Asfaire gezogen hat, um in Irland Krieg zu sichren, tritt sein Freund Warwick aus und entlarvt die Meuchelmörder. Jetzt endlich kommt beim König der gerechte Zorn zum Ausbruch. Er verbannt den Günstling seiner Frau, der dann auf der Reise von Seeräubern erschlagen wird. Der Cardinal stirbt in plötzlicher Reue und gräßlicher Verzweiflung. Aber Alles zu spät sür Heinrich. Denn damit fällt er nur in die Hände der Großen, die mit Jork bereits gegen ihn einig sind.
Im vierten Act wird die Verwirrung des Landes, die Verlegenheit des Königs gesteigert durch den wüsten Volksaufstand eines von Jork aufgestellten Schwindlers, der sich ffür Pork's schon todten Oheim Mortimer ausgibt, welcher auch schon Anspruch au die Krone gehabt hätte. Die Sache ist sehr lächerlich dargestellt und wird schnell in Ordnung gebracht, sowie ein Paar handfeste Leute sie ernstlich anfassen; aber sie genügt doch sür Jork als Vorwand, um mit Heeresmacht aus Irland zurückzukehren und sich zum Herrn der Lage zu machen. Zwar verlangt er im fünften Acte anfangs nur die Beseitigung eines neuen Günstlings der Königin, der im Augenblick den meisten Einfluß hat, und will sich sogar scheinbar dem König nach wie vor unterwerfen, als ihm versichert wird, daß dieser Somerset bereits gefangen abgesührt sein soll. Aber jetzt bricht wieder die Königin eigenmächtig den Vertrag und kehrt mit Somerset zurück; der König kann oder will es nicht hindern, und nun tritt Jork offen auf, ihn abzusetzen, die Krone sür sich zu verlangen, und besiegt ihn.
Man kann sich leicht vorstellen, daß diese klar verständliche zusammenhängende Reihe gewaltiger Handlungen, aus der Bühne als eine Folge großartiger Bilder sich entwickelnd, getragen von tüchtigen Schauspielern, einen einfach großen, packenden Eindruck machen muß, wie dies damals in Weimar in der That geschah, und da auch heute wieder ein neuer Anlauf zur würdigen Darstellung Shakespeare's ans unfern Theatern, z. B. besonders aus der im alten Stile „neu eingerichteten Bühne" in München genommen ist, so würde sich eine Wiederaufnahme gerade dieses historischen Stückes sehr empfehlen. Es bleibt die Frage, ob diese effectvollen Scenen und Bilder auch in rein ästhetischem Sinne zu einer Einheit der Wirkung richtig Zusammenwirken. Halten wir an der alten Grundidee fest, daß die dramatische Wirkung entweder eine tragische oder komische sei, d. h. also entweder in dem Mitgefühle bei den Leiden, oder in der Freude an der Beobachtung der Eigenart des Charakters der handelnden Personen bestehen solle, lassen wir aber mit Lessing auch die Mischung dieser beiden Arten von Wirkung unter der Bedingung als zulässig gelten, daß sie sich einander nicht stören, sondern ergänzen, so muß man sagen, daß wir hier ein elastisches Beispiel dafür haben, wie Shakespeare es ist, der diese Bedingung vollkommen zu erfüllen verstanden hat. Denn die scharfe Charakteristik und die erschütternde Begebenheit sind hier untrennbar verbunden, da die ganze Handlung