Heft 
(1892) 70
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Deutsche Rundschau.

Heinrich's VI. ist, daß Shakespeare die Geschichte auf das Theater bringt, wie sie die Chronik gibt, sie im Einzelnen sehr wirksam in aufregende Scenen mit mächtigen Reckengestalten gruppirt, daß aber nur das eine der drei Stücke, der zweite Theil einen einheitlichen und sehr eigenartigen dramatischen, aus tragischer und komischer Wirkung gemischten Gesammteindruck macht.

An diese drei schließt sich nun dem Verlause der Geschichte und der Ent­stehung der Dichtung nach als das vierte und letzte des ganzen fertigen Werkes, oder der zuerst entstandenen zweiten Hälfte, die Tragödie von Richard III-, das erste vielbewunderte selbständige Werk des Dichters in dieser Art. Rümelin sagt von demselben, es sei das einzige eigentliche, in sich abgeschlossene Drama der ganzen Reihe, eine wahre und machtvolle Tragödie, wenn er auch nachher im Einzelnen doch Manches daran auszusetzen hat, und diese hohe Meinung von Richard III. ist eine allgemein verbreitete. Ich will als Hauptautorität dafür nur Schiller anführen, der die große Nemesis dieser Tragödie dem Riesengang des Schicksales bei den Alten ganz an die Seite stellt. Wenn ich nun aber gerade hier nicht beistimmen kann, so beruht dies in erster Linie auf dem Eindruck der Vorstellung im Theater, der alles Andere eher war, als der des Mitleids in der Tragödie; zweitens aber, Wenn ich doch auch versuchen will, diese rein subjective Wirkung aus der Natur der Dichtung zu begründen, so kann ich mich gegen Schiller's Ansicht nur auf ihn selbst berufen. Er sagt einmal über die Art, wie die Wirkung der Tragödie zu Stande kommt:die Möglichkeit des Mitleids beruht auf der Wahrnehmung oder Voraussetzung einer Ähnlichkeit zwischen uns und dem leidenden Subject. Ueberall, wo diese Ähnlichkeit sich erkennen läßt, ist das Mitleid nothwendig, wo sie fehlt, unmöglich. Je sichtbarer und größer die Ähnlichkeit, desto größer unser Mitleid; je geringer jene, desto schwächer auch dieses. Es müssen, wenn Wir den Affect eines Anderen in ihm nachempfinden sollen, alle inneren Bedingungen zu diesem Affect in uns selbst vorhanden sein, damit die äußere Ursache, die durch ihre Vereinigung mit jenem dem Affect die Entstehung gab, auch auf uns die gleiche Wirkung äußern könne. Wir müssen, ohne uns Zwang anzuthun, die Person mit ihm zu wechseln, unser eigenes Ich seinem Zustande augenblicklich unterzuschieben im Stande sein."

Es liegt auf der Hand, daß diese Voraussetzungen des tragischen Mitleids in Richard III. durchaus nicht zutreffen. Ich will noch nicht einmal in erster Linie das Uebermaß seiner Schandthaten anführen. Nachdem er den Erbfolgestreit der Rosen dadurch zu Ende geführt hat, daß er mit dem Rest des Hauses Lancaster blutig ausräumte, mordet er in seinem Hause und unter seinen Anhängern weiter, um allein als König auf dem Platze zu bleiben und dann, indem er nach einander die Wittwe des letzten Lancaster und die Schwester seines hingemordeten Neffen heirathet oder heirathen will, von Neuem für einen Nachfolger zu forgen. Er ist daneben ein frommer Heuchler und ehrloser Betrüger bei jeder Gelegenheit. Aber wenn uns dies Alles über das Maß menschenmöglicher Scheußlichkeit hin­auszugehen scheint, so waren vielleicht Shakespeare und sein Publicum noch her in der Lage, sich in diese Methode königlicher Politik hineinzudenken, da die englischen Könige und Königinnen der Resormationszeit, Heinrich VIII. und seine Kinder und Nachfolger, es nicht viel anders machten, ja fast noch durch-