Shakespeare's Königsdramen von Richard II. bis zu Richard III.
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triebener, weil es in der heuchlerischen Form Rechtens geschah. Sie ließen in der eigenen Familie immer nach Bedürfniß hinrichten, wenn der alte Begründer der englischen Resormation eine Frau los sein wollte, um eine andere zu nehmen, oder wenn seine Nichten seinen Töchtern mit dem Ansprüche aus die Erbfolge im Wege standen. Aber das, worin Shakespeare's Richard III. alles Dagewesene überbietet, wodurch er aus der menschlichen Natur, in die wir uns hineindenken können, ganz heraustritt, ist seine eigene Erklärung, daß er eben der Mensch ist, der keinem gleicht und deshalb nun gewillt ist, ein unerhörter Bösewicht zu werden. Diese bewußte und vorsätzliche Lossagung von aller gewöhnlichen Menschheit und Menschlichkeit ist jedenfalls eine Leistung menschlicher Willensfreiheit, in die sich ein vernünftiger Mensch niemals wird hineindenken können. Und da Richard jedenfalls die Hauptperson des Stückes ist und bleibt, so kann es höchstens die Wirkung einer extremen Charakteristik, also einer Art von Komödie, aber mit dem Hinderniß der schrecklichen Geschichte darstellen.
Es bleibt auch hier nicht übrig, daß etwa wie im zweiten Theile von Heinrich VI. verschiedene Arten von Eindrücken, tragische und komische, sich mischen und ergänzen, sondern sie schlagen sich ins Gesicht. Auch das Interesse an der starken Charakteristik des Ungeheuers Richard als solches kann nicht aufkommen neben dem Entsetzen über die Folgen seiner Handlungen. Und das Mitleid mit den Opfern seiner Wuth kann ebenso wenig zu einer reinen Wirkung kommen. Die gräßlichen Mordthaten folgen Schlag auf Schlag, ohne daß Wir Zeit und Gelegenheit haben, die einzelnen Personen kennen zu lernen und uns für ihre Schicksale zu erwärmen. Schuldige und Unschuldige stürzen über einander, wie bei einem Eisenbahnunglück. Da thut uns freilich auch Jeder leid, der verstümmelt wird, weil er eben ein Mensch ist; aber das ist keine Tragödie mehr. Und wenn uns etwa gar am Ende die göttliche Schadenfreude der Nemesis eine Befriedigung des sittlichen Gefühles gewähren soll, indem der Bösewicht unterliegt, so muß ich sagen, scheint mir diese Satisfaction sehr mäßig. Er fällt in ehrlicher Schlacht, und wenn das dem edelsten Helden zustößt, nennt man es ein schönes Ende. Was er zuvor erst durchzumachen hat, ist, daß ihn natürlich am Ende doch die Angst beschleicht, es könne ihm selbst an den Kragen gehen; ferner, daß ihn vier wüthende Weiber um die Wette verfluchen, was ihn entschieden ganz kalt läßt, und daß ihm in der letzten Nacht ein Dutzend Geister der Ermordeten im Traum erscheinen, was ihn doch auch so wenig rührt, daß er zum Kampf
geht mit dem Wort:
„Wohl tausend Herzen schwellen mir im Busen"
und seine Rolle als ruchloser, aber tapferer Kriegsmann und Feind aller seiner Feinde eigentlich bis zu Ende glänzend durchführt.
Ich hätte diese Betrachtungen über die Unmöglichkeit des tragischen Mitleids für so ein Scheusal und seine Opfer und über die nur schwache „poetische Gerechtigkeit" des Ausganges beinahe ebenso aus Lessing's Dramaturgie abschreiben können. Freilich dort beziehen sie sich nicht auf die Tragödie Richard III. von Shakespeare, sondern auf die eines Herrn Weiß über denselben Gegenstand; aber sie passen alle von Wort zu Wort auf jene wie auf diese. Lessing wird sich das Wohl auch überlegt haben, aber er hüllt sich in beredtes Schweigen darüber, ob er es