Heft 
(1892) 70
Seite
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Deutsche Rundschau.

Ich habe bis jetzt absichtlich nicht viel von dem historisch-politischen Inhalt der Königsdramen gesprochen, weil ich der Ansicht bin. daß derselbe bei ihrer künstlerischen Wirkung und Würdigung Nebensache ist; aber zum Schlüsse muß ich doch diese Seite auch noch berühren. Shakespeare kann nicht umhin, nach dem fröhlichen Schlüsse von Heinrich V. mit gelungener Eroberung und hoffnungs­voller Verlobung in einem Epiloge daraus vorzubereiten, daß dies Vergnügen nicht von langer Dauer sein sollte. Denn die zweite Hälfte der Dramen, in der dies Alles zu Wasser wird, lag ja schon fertig vor ihnen. Aber was war es doch, was ihn und sein England in die Lage versetzte, sich an diesen alten wilden Historien frisch und fröhlich im Theater zu erbauen und zu ergötzen? Es rührte sie gewiß so wenig, daß die Eroberung Frankreichs durch ihren jugendlichen Heldenkönig nicht von Bestand gewesen ist, wie es uns kalt läßt, daß es unseren Hohenstaufen nicht gelungen ist, die Krone Italiens mit Deutschland zu vereinigen, da diese Vereinigung beider Länder den gemeinsamen Schwerpunkt ebenso nach Paris verlegt haben würde, wo sie Heinrich VI. als Kind gekrönt haben, wie die Politik der römischen Kaiser den ihres Reiches nach Rom und Palermo. Shakespeare's Zeit war auch noch eine sehr bewegte und gewaltthätige; aber der nationale Staat war fest gegründet wie nie zuvor, und darum haben der Dichter und sein Publicum jetzt so ihre Helle Lust an den alten Raufereien, in denen ihre Vorfahren im vorigen Jahrhundert einander oder den Franzosen die Hälse ge­brochen haben.

Auch unser Schiller stellt im Prolog zum Wallenstein das Programm auf, durch historische und besonders vaterländische Stoffe der Kunst höhere und würdige Gegenstände zu geben.

Denn nur der große Gegenstand vermag

Den tiefen Grund der Menschheit aufzuregen."

Und so Will er seiner Zeit das Bild der Schrecken des dreißigjährigen Krieges im Bilde vorführen, die etwa ebenso lange hinter ihr lagen, wie die Rosenkriege hinter Shakespeare, und deren Ergebniß, die Ordnung der Staaten Europas nach dem westphälischen Frieden, eben gründlich in die Brüche ging; und darum appellirt er nun an die richtige Stimmung seiner Zuschauer, die zum Genüsse des Kunstwerkes gehört, daß sie dies Schreckliche jetzt mit Gelassenheit an sich vorübergehen sehen können.

Und blicket froher in die Gegenwart

Und in der Zukunft hoffnungsreiche Ferne."

Freilich eine kühne Hoffnung, so geschrieben im Jahre 1798, aber nach der Geburt Wilhelm's I. Wie ganz anders wären wir heute in der Lage, die Wechsel und Irrungen unserer tausendjährigen Geschichte als ernsten und heiteren Unterhaltungsstoff von der Bühne herab auf uns wirken zu lassen, nach­dem auch unser Reich endlich groß und mächtig begründet dasteht. Ich kann deshalb nur mit dem Wunsche schließen, den ich schon vor Jahren einmal, ich weiß nicht mehr wo, gelesen habe: möchte doch, wie damals zu Stratford am Avon, so in einem der grünen Thäler unseres Vaterlandes schon jetzt der lockige Knabe schwärmen, der uns das nationale Drama, das Drama der Zu­kunft bringen soll!