Ein Jahr bei den Ajaris.
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heilen, was sie jedoch nicht abhält, für ihre eigenen Leiden den Arzt aufzusuchen. — Morgens früh, wenn ich mein Fenster öffne, sehe ich Scharen von Beduinen mit Weibern und Kindern am Hause hocken, und wenn ich über den Hofplatz gehe, halten sie mich am Kleide und flehen um Arznei. Die Leute kommen stundenweit her, wie die Weisen aus dem Morgenland, weil sie gehört haben, der Doctor sei wieder da. So trug eine uralte Großmutter ihre vierzehnjährige lahme Enkelin aus dem Rücken hier herauf. Ein Hirt brachte sein Töchtercheu, das ein Pferd am Kops verletzt hatte; die Wunde war mit Fett und Honig verklebt, nach arabischer Sitte, und heilt dennoch aufs Beste. Ein Anderer führt seine schöne blaffe, mit Schmuck bedeckte Frau aus einem Eselchen her, das Kind aus den Rücken der Mutter gebunden, eine Illustration zu der Flucht aus Aegyptenland.
Freitags ist Markttag. Unter den Oliven im Thal sind kleine Zelte aufgeschlagen, darinnen halten die Beduinen ihre Waaren feil. Gemüse, Obst, Thon- waaren und einige wenige Baumwollenstoffe, messingener Schmuck, Nägel, Zwirn und Kameelwolle liegen sorgfältig ausgebreitet in Reihen da. An einem Ende werden Hammel und Kälber, an einem anderen Hühner ausgeboten. Ein dichter Kreis von gekoppelten Eseln, Maulthieren und Pferden umgibt den Platz. Das Stimmgewirr der feilschenden Menge, das Wiehern der Pferde, das Brüllen des Viehes tönt bis zu uns herauf. Als ich letzten Freitag unten war, erregte es einiges Aufsehen. Mancher mochte nie eine Europäerin gesehen haben; ein junger Bursche entfloh, als ich ihn anredete. Um ein paar Nägel zu erstehen, kam ich an das Zelt eines lustigen Alten, der wie ein Pascha unter seiner Waare saß und schlechtweg „von sei" (Vater sechs) genannt wurde, weil er an jeder Hand sechs Finger hat.
Nun habe ich Euch unsere hiesige Gesellschaft gemalt, es fehlt nur noch die Beschreibung der Thiere, die zum Hause gehören, des Schakals an der Kette, des gelben Beduinenhundes, der häßlich ist, aber treu wie der Pudel des Just, der zierlichen Gazelle. — — Doch da klopft es schon wieder an die Thür. Ein Windstoß, Regen und Kälte dringen herein, und mit ihm ein grauer Burnus und Riesencapuze, auf hohen Stiefeln. Es ist unser Freund Muhammed-el-Barni, dessen Geschichte ich für ein andermal aufhebe.
V.
21. October.
Nach Stürmen ohne Ende war heute der erste schöne Tag, und wir konnten endlich unseren Plan ausführen, die Ruinen von Macter zu besuchen. Bei strahlendem Himmel und warmem Sonnenschein brachen wir Nachmittags um zwei Uhr auf und ritten bergab nach der Ebene zu, in der die Feigenbäume und Oliven von Macter mit ihrem Grün wie eine Oase von Weitem erkennbar sind. Hier sind die Abhänge nur mit Heidekraut und Halfa bestanden und jetzt nach den ersten Regen von winzigen lila Crocus wie besäet. — An einem so herrlichen Tage, in frischer Bergluft den Blick in die schöne Ferne gerichtet, in den Sonnenschein hinausreitend, dachte ich an die Worte des Tieck'schen Liedes, daß es „keinen ;e gereut hat, der ein Roß bestiegen." — Bevor man das Dorf Macter erreicht,
Deutschs Rundschau. XVIII, 4. 7