Ein Jahr bei den Ajaris.
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VIII.
11. December.
Ich bin dem Vach in unserer Schlucht nachgegangen bis dahin, wo er lauwarm aus dem Felsen quillt. Auf den Bergspitzen liegt Schnee, der erste, den ich seit Jahren sah. — In der Felsschlucht, dort wo sie am breitesten ist, haben Beduinen ihr Zelt aufgeschlagen. Der Vater ist ein weißbärtiger Sechziger, eine Patriarchengestalt, in ein grobes, erdfarbenes Gewand gekleidet, mit einem Riemen gegürtet. Die Frau ist jung, ein Bild überquellender Frische und Gesundheit. Sie trägt ihr kleinstes, acht Monate altes Kind auf dem Rücken in ihrem aufgeschürzten Kleide. Früh, wenn sie auf Arbeit geht in die Berge, um Holz zu suchen, wird die kleine Mahbouba in diese Naturwiege gesetzt. Die Sonne scheint auf das Kind, der Regen durchweicht es, sitzend schläft es, sich mit den Händchen an das Kleid klammernd, und sollte es Abends einmal zu sehr durchfroren sein, so wärmt die Mutter es an einem Kohlenbecken. Der älteste Sohn, ein schöner siebenjähriger Junge mit schwarzem Kraushaar und einem schweren Silberschmuck im rechten Ohr, liegt seit Tagen krank am Fieber. Die Geschwister trinken die Suppe weg, die ich täglich hinschicke, und in Ermangelung von Milch, die hier im Gebirge selten ist, nährt ihn die Mutter abwechselnd mit dem Säugling. — In dem schwarzen Zelt, aus Kameelshaar gewebt, liegt auf der Erde ein Strohsack, darauf schläft Jung und Alt. Heute wurde der zweijährigen Fatma einziges Kleidungsstück, ein rothes Hemdchen, gewaschen, und das kleine braune Ding saß frierend und nackt auf dem Bettsack. Die Mutter kochte die Abendmahlzeit, Pfefferschoten auf Kohlen geröstet, die, mit Hirsebrot gegessen, auch den erstarrtesten Magen wärmen müssen.
Wir haben den Dolmenbcrg von Hammam - Suakra besucht. In den Abhang über einem Bach, den eine römische Brücke mit dem jenseitigen Ufer verbindet, sind wie Bienenzellen Dolme an Dolme in die Erde gegraben. Von oben mit Riesenselsplatten gedeckt, an den Seiten von eben solchen gestützt, bilden sie tiefe höhlenartige Gewölbe, die Wohl einst als Grabkammern dienten. Manche darunter sind so Wohl erhalten, ihre Mauern so sorgfältig behauen, daß sich vermuthen läßt, die Römer hätten sie angelegt, die Bauform der Urbewohner des Gebirgs nachahmend und vervollständigend. — Ein Beduine gesellte sich zu uns und bot uns in einer hölzernen Schale saure Ziegenmilch an. Er zeigte uns auch eine in den Bach gestürzte Inschrift und meinte, Allah's Fluch läge über den „Gläleb" (Dolmen), und eine Pest habe die einstigen Bewohner hinweggerafft. — Von der Römerstadt am andern Bachufer stehen noch Wartthurm und Brückenpfeiler, im schön erhaltenen Triumphbogen wohnt eine Araberfamilie, in den Gewölben der unterirdischen Wasserleitung ist das Vieh untergebracht. — Der Tag war grau, und drohende Wolken sammelten sich um die Bergspitzen. Aus dem Rückweg zur Höhe kamen wir bei unfern Beduinen vorbei und sahen ein malerisches Bild. In dem dunklen Zelt brannte ein Oellämpchen, bei dem flackernden Schein kämmte die Mutter ihr langes schwarzes Haar und sang dazu. Die Kinder lagen in tiefem Schlafe auf dem Strohsack, der Vater kauerte.
IX.
19. December.