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Deutsche Rundschau.
aber wurde daraus ein sehr persönliches: Gentz lernte den jungen Pilat kennen und lieben, er nahm an allen seinen Bestrebungen Antheil, hörte gerne seine Meinung, wies chn zurecht, wo er ihn aus Irrwegen glaubte, war ihm ein eifriger und milder Lehrer auf dem Gebiete der Politik. Dabei konnte es nicht fehlen, daß er manchen charakteristischen Zug im Wesen des Freundes berührte — wie Pilat war, erfahren wir vor Allem aus den Briefen von Gentz an ihn: „Sie leben und weben in einem bestimmten politischen System," schrieb er ihm 1813; „Sie nähren noch den jugendlichen Wahn, daß die Dinge sich nach unserem Willen fügen müssen, und daß man mit einigen allgemeinen Principien die Welt regieren kann." Häufig macht ihm Gentz auch Vorwürfe über die Art, wie er seine Ansfassung zur Geltung zu bringen sucht: „Ihr oft bis zur Verletzung aller äußeren Formen getriebener Ungestüm", lesen wir in einem Brief von 1821, „der allerdings befremdende Ton, worin Sie mir Tag für Tag Ihre Unzufriedenheit mit Allem, Ihre bitteren Klagen, Ihre finsteren Besorgnisse und hauptsächlich Ihre Belehrungen adressirten, hat mich mehr als einmal geärgert; ich glaubte aber durch beharrliche Mäßigung und Ruhe Sie nach und nach von diesem falschen Wege zurückzuführen. Dies ist mir so wenig gelungen, daß Sie den Kontrast zwischen Ihren Briefen und den meinigen nicht einmal bemerkt zu haben scheinen." Aber Gentz vergißt nicht, am Ende sowohl dieser wie anderer ähnlicher Briese hinzuznsetzm, daß ungeachtet aller strengen Aeußerungen seine freundschaftlichen Gesinnungen und feine herzliche Zuneigung für Pilat nicht die geringste Aenderung erleiden können.
Die Ergänzungen des Gentz-Pilatffchen Briefwechsels, die wir heute dem Publicum vorlegen, lassen weder das Verhältniß der beiden Männer in einem neuen Lichte erscheinen noch erfahren wir aus ihnen bis jetzt unbekannte Thatfachen ihres Lebens oder ihrer Zeit. Aber sie liefern neue Züge zu ihrer Charakteristik und werden Vielen darum willkommen sein; insbesondere haben, was Gentz betrifft, gerade die reichen Publicationen der letzten Jahre um diese Persönlichkeit auis Neue so sehr den Reiz des Geheimnißvollen gebreitet H, daß jedes Wort von ihm, und wäre es auch über den gleichgültigsten Gegenstand, als ein werthvolles Document seines Wesens angesehen und festgehalten werden muß.
Der erste von den Briefen, die wir hier vorlegen, stammt aus dem Jahre 1819. Denn der Artikel von Görres, der darin erwähnt wird, erschien nach der Blntthat Sand's unter dem Titel „Kotzebue und was ihn gemordet". Darin nennt Görres jene That des „Himmels Zeichen" und einen „warnenden Boten"; er prophezeit, das Blut Kotzebncks werde über diejenigen kommen, „die dem Volk den Preis seiner Anstrengung geraubt." Börne's „Wage" erschien von 1818 bis 1821.
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Ich wünsche zu hören, wie Sie sich die schändliche Wetter-Revolution erklären, die sich seit vorgestern Abend zugetragen hat. Mich hat nie eine Erscheinung dieser Art mehr deconcertirt.
Weit wichtiger und betrübender ist freilich die fortschreitende Verkehrtheit und Verruchtheit der Menschen, wovon jedes neue Blatt neue Beweise liefert. Ich schicke Ihnen hier die zwei letzten Hefte der Wage. Sie finden darin den Aufsatz von Görres, der Sie gewiß nicht erbauen wird. Er enthält nicht einmal eine einzige neue Ansicht, nichts als den zweischneidigen Bombast, den uns die Rheinischen Blätter, die Mainzer Zeitung und andere solche Kirchenlichter schon bis zum Ueber- drnß vorgesetzt hatten, dabei die hohle, dumpfe, drohende Prophetensprache, die immer Unglück verkündigt, ohne je anzudeuten, wie man ihm denn eigentlich entgehen soll. — Eine gewisse Neutralität zwischen Ultras und Liberalen, aber mit unverkennbarer
1) Hauptsächlich durch die Veröffentlichungen aus dem Nachlaß des Fürsten Metternich.
2) Abschrift.