Die Berliner Theater.
Berlin, 9. December 1891.
Es ist eine alte Klage gegen die Theaterkritik in den Tageszeitungen, daß sie wegen der Schnelligkeit und Flüchtigkeit ihrer Berichterstattung gar nicht in der Lage sei, ein dramatisches Werk nach einer Ausführung wahrhaft würdigen zu können, und daß diese Weise des Recensirens gleichsam über Nacht auch den Kritiker, der die beiten Absichten habe, der Dichtung gerecht zu werden, nur allzu leicht versühre, vor Allem seinen Geist und seinen Witz leuchten zu lassen und die Sache mit geistreichen Einfällen oder schlechten Späßen abzuthnn. Niemand kann die Hast und Ueberstürzung der Kritik, zu der die hauptstädtischen Zeitungen durch die Coneurrenz gezwungen worden sind, mehr bedauern als Einer, der wie ich, mm Jahre lang in dieser Tretmühle Mitarbeiten muß, Niemand mehr als ich den Kritiker verurtheilen, der in einem Theaterstück nur die willkommene Zielscheibe für die Pfeile seines Spottes sieht — vorausgesetzt, daß es sich in der That um eine Dichtung, wenn nicht um ein Kunstwerk, doch um eine ernsthafte künstlerische Arbeit handelt. Und hier eben macht die Wirklichkeit in den meisten Fällen die Anklage gegen die Kritiker zu Schanden. Neun Zehntel der aufgeführten dramatischen Neuigkeiten sind bescheidenes Mittelgut, mit denen eine Lessingffche oder auch nur eine akademische schulgemäße Kritik gar nichts anzufangen wüßte, in denen sich oft genug, von der technisch theatralischen Routine abgesehen, nicht ein Hauch von dem Gefühl des Schönen, nicht ein Korn Kunstverstand findet. Wie soll man ernsthaft von den Gesetzen der dramatischen Kunst, von Schrecken und Mitleid im Trauer-, von dem Wesen des komischen Charakters im Lustspiele reden, Theaterstücken gegenüber, die von all? diesen schönen Dingen keine Ahnung haben oder sich dieselbe wenigstens nicht anmerken lassen! Der modernen Theaterkritik treten im Durchschnitt keine Schöpfungen entgegen, die den Anspruch einer ästhetischen Würdigung erheben könnten, denn dazu müßten sie sich zuerst doch selber stllistischen Gesetzen unterordnen; es sind Eintagsfliegen, die eine Spielzeit lang schillern und leben wollen und das bischen Schmelz auf ihren Flügeln im Augenblick verlieren würden, wo sie ein Lessing anfaßte. Die Theaterkritik in den politischen Zeitungen mordet keine Kunstwerke, höchstens läßt sie einmal eine Fehlgeburt schneller sterben, als es ohne sie nach dem natürlichen Verlaufe geschehen wäre, mit größerem Rechte könnte man ihr den Vorwurf einer unzeitigen Nachsicht gegen das Thörichte und die Modekrankheit des Pefsimismus machen. Aber auch hier rückt der gesunde Menschenverstand und der Geschmack des Publicums, der immer nur eine Weile verblendet und in die Irre geführt werden kann, die Dinge bald wieder in Ordnung. In der Zeit des Telegraphen und des elektrischen Lichtes ist die Herrschaft des Unverständigen und Unnatürlichen auf eine kurze Dauer eingeschränkt. Was endlich den witzboldigen und satirischen Kritiker betrifft, der noch mehr an dem Verfasser als an seinem Werke den Muthwillen übt, so pflege ich ihm ebenso häufig in Wochen- und Monatsschriften zu begegnen wie in den Tageszeitungen; ja, die größere Muße, die er hier hat, seine Pfeile zu schärfen,