Heft 
(1892) 70
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Deutsche Rundschau.

machen ihn an jener Stelle noch gefährlicher; er verspritzt ein sorgfältig nach der Regel der Kunst verfertigtes Gift, während der Reporter, der unmittelbar nach dem Schluffe der Vorstellung berichtet, an die Gebelaune des Augenblicks gebunden ist.

Wenn man die Neuigkeiten, welche die Berliner Theater feit dem Monat August bis zum ersten Drittel des Decembers zur Aufführung gebracht haben, noch einmal an sich vorüberziehen läßt, erkennt man, wie wenig im Allgemeinen die Vorwürfe gerechtfertigt sind, die man an die Tageskritik richtet, wie unmöglich es für sie ist, Theaterstücke, die schon von dem Publicum der ersten Vorstellungen mit seltener Ein­stimmigkeit abgelehnt wurden, nach den Ansprüchen einer echten Kunstkritik zu beurtheilen. Wo keine Kunst ist, kann sie auch nicht gefördert, wo kein tieferer Inhalt vorhanden ist, er auch nicht gewürdigt werden. Treffen nun alle Theaterdirectoren aus der lleber- fülle der ihnen eingereichten dramatischen Schöpfungen mit einer verhängnißvollen Sicherheit stets die schlechteste Wahl? Gibt es bessere Stücke, sei es dem literarischen Werthe oder dem größeren Erfolge nach, als diejenigen, die sie aufführen? Haben sie eine unglückliche Hand oder keine Fühlung mit dem Geschmack des Publicums? Daß in der dramatischen Lese eines Jahres hier und dort durch ein besonderes Mißgeschick eine bessere Traube sich der Aufmerksamkeit entzieht, soll nicht bestritten werden, aber im Durchschnitt sind die, welche uns vorgesetzt werden, noch immer die genießbarsten. Unter den vielen Theaterstücken, die mir zugehen, wüßte ich diesmal nicht eins zu nennen, das ich, wie man so sagt, mit gutem Gewissen einer Theaterleitung empfehlen könnte, denn mit der einzigen Ausnahme des Schauspielhauses sind alle übrigen Bühnen der Stadt auf den Erwerb angewiesen und gegenwärtig, bei den mißlichen ökonomischen Verhältnissen gerade der Wohlhabenderen, in einer schwierigen Lage, in einem harten Concurrenzkampf, der schon wiederholt das Be­denken erweckt hat, ob nicht sechs hervorragende Luxustheater, die sich einzig der Pflege des Schauspiels und des Lustspiels widmen, für unsere Stadt des Guten zu viel sind wie könnte man einer von ihnen Mühen und Kosten für ein Werk zu- muthen, dem man selbst kein rechtes Vertrauen auf seine Zugkraft entgegenbringt! Ueberall, in Deutschland wie in Frankreich, liegt die dramatische Production dar­nieder, zum Theil wegen des Uebermaßes schlechter und mittelmäßiger Waare, mit der die Bühnen überschwemmt werden. Was der Norden erzeugt, ist wesentlich nur für den Liebhaber bestimmt; alle Versuche, für die letzten Schauspiele Jbsews und Strindberg's ein zahlreicheres Publicum zu gewinnen, sind kläglich gescheitert; mit den russischen Sachen Turgenjews und Tolstolls hat man ebenfalls keine bedeutenderen Erfolge erzielt, höchstens, daß mit Hülse einer beliebten Schauspielerin, eines geistreichen Schauspielers das eine oder andere dieser Stücke ein Weilchen über Wasser gehalten wird. Die einzig hervorragende jüngere dichterische Kraft aus dem Gebiete des Drama's, die wir besitzen, ist trotz alll ihrer Mängel die Wildenbruch's; in ihr ist Schwung, Feuer, zuweilen eine geniale Erfassung der Dinge, immer ein außerordent­liches theatralisches Geschick. Im Vergleich zu ihr hat das Talent Richard Vossens, das an sich sinnreicher und tiefgründiger ist, einen Ausdruck des Kränklichen und Ueber- reizten, der mehr zurückschreckt als anzieht. Gesellt man ihnen noch die liebenswürdige und künstlerisch anmuthige Begabung Fulda^s hinzu, so hat man die Blüthe der modernen Production zusammen, denn die einzige Schwalbe Sudermanills,Die Ehre", macht auch für ihn noch keinen Sommer. Immer noch müssen, um nur den Tages­bedarf der Theater bereit zu stellen, die älteren Schriftsteller Paul Hehse, Paul Lindau, Oskar Blumenthal herangezogen werden. Die Jüngsten, die im Winter von 1889 aus 1890 aus der Freien Bühne einen solchen Lärm erhoben, sind verstummt; der Mißerfolg, den die Arbeit des talentvollsten unter ihnen, Gerhart Hauptmann's Einsame Menschen", auf dem Deutschen Theater erfahren hat, ist in der gegenwärtigen Spielzeit für diese ganze Richtung, die Geschichten des Hinterhauses und des grauen Elends zu dramatisiren, ein verhängnißvolles Omen geworden. Schneller als es die Schriftsteller und Directoren erwartet, hat sich der Geschmack von diesen Stoffen und der naturalistischen Kleinmalerei des Dürftigen und Widerwärtigen abgewandt. Das