Die Berliner Theater.
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Eintönige in diesen Schilderungen der Armuth und der Rohheit, die einseitige Hervorkehrung des Häßlichen und Peinlichen, das Gezwungene und Gemachte in dieser angeblich nur aus die Natur und die Wahrheit gerichteten neuen Kunst hat die Zuschauer nach wenigen Proben ermüdet und verstimmt. Die Kühnheit und Wunderlichkeit Jbsen's, Zola^s und der Goncourts ist in der deutschen Nachahmung bald genug zu einer argen Trivialität entartet, denn nicht nur der vielgescholtene Optimismus, sondern auch der Pessimismus kann zu dem ödesten Gassenhauer werden, wenn jeder Narr seine Melodie pseist. Unter diesem Stern der „breiten Bettelsuppen" stand bisher die Saison. Trotz der Verschiedenheit der Vorwürse, der Figuren und Grundgedanken waren alle Neuigkeiten, so weit sie überhaupt eine literarische Kritik verdienen, aus den Grundton des Weltelends gestimmt, aus einen düsteren, schwarzen oder grauen Hintergrund gemalt- Ueberall waren die Spuren der „Nora", der „Ehre" und „RaskolnikoüLs" zu erkennen. Dem Bestreben, auch einmal in der naturalistischen Weise ihr Probestück abzulegen, hatten die Verfasser ihre Eigenart zum Opfer gebracht; alle wollten zu Miniatur-Ibsen mit der gedrehten Löwentolle werden, sogar der gute Lubliner verirrte sich in die Brunnenstraße. Daher kein historisches Trauerspiel, keine romantische Komödie, kein zierliches Salon-Lustspiel, nichts als bürgerliche Schauspiele mit zwei oder drei Leichen aus und hinter der Scene, Ehescheidungen, Mädchenversührungen, Kindermord, Verwundungen im Duell, Daumenbrüche, weil man unvorsichtig der Maschine zu nahe gekommen; nicht einmal Paul Lindau fand sein altes, keckes und ironisches Lachen wieder. Diese Dürftigkeit der Production, dies Gebanntsein in dem engen Kreise der pessimistisch-socialistischen Anschauungen offenbart sich noch schärfer, wenn man von den gespielten Stücken einen Blick auf den Haufen der Buchdramen wirft. Auch hier überwiegen die modernen Stoffe und Schilderungen im bedenklichen Grade; sich im hohen dramatischen Stil zu versuchen, hat Niemand mehr Muth noch Neigung. Die Vorliebe für das Alltägliche und Niedrige, in dem man allein noch die Natur zu finden glaubt, erniedrigt auch die Kunstform. Immer mehr löst sich die Geschlossenheit des Dramas in die dramatisirte Kriminalgeschichte, mit langen, oft Jahre umfassenden Pausen zwischen den einzelnen Acten aus. Die Geringschätzung der Fabel gegenüber der Charakteristik der einzelnen Figuren, die genaue Ausmalung des Zuständlichen, diese künstlerischen Principien des Naturalismus, haben die dramatische Spannung und Bewegung zu Gunsten einer endlosen Geschwätzigkeit über die „These", die das Stück entwickeln soll, getödtet. Um dem dürftigen Stoff seine ganze Natürlichkeit zu bewahren, bedient man sich des Dialekts und der Plattheit der Arbeiter- und Dienstbotensprache. Woher den Ausdruck für das Erhabene und das Schöne nehmen, wenn man in der beständigen Betrachtung des Erbärmlichen und des Schmutzigen sie auch nur zu ahnen verlernt hat? Die Niederlagen, die das Publicum diesen Stücken bereitet hat, sind vielleicht den Schriftstellern für das neue Jahr eine Lehre, das Hinterhaus wieder einmal zu verlassen und in das Vorderhaus zurückzukehren.
Zunächst aber muß sich die Kritik leider noch mit diesen Schöpfungen einer traurig verstimmten Weltanschauung, die sich weder in das Tragische noch in das Komische kräftig zu erheben weiß, und unzureichenden Talentes beschäftigen. Der Zug der Zeit oder der Wunsch, sich der neuesten Literatur gefällig zu erzeigen, hat auch das Schauspielhaus bewogen, ihnen seine Pforten zu öffnen. Zum Schaden seines künstlerischen Ansehens, wie man es sich hätte Vorhersagen können. Da es nicht möglich ist, in einem königlichen Hause, Strindberg^s „Vater" und „Fräulein Julie", Zola's „Therese Raquin" oder Hauptmann's „Vor Sonnenaufgang" aufzusühren, weil ihnen, auch wenn sich die Leitung über Schicklichkeit und Vorurtheil hinwegsetzen wollte, der Resonanzboden im Publicum fehlen würde, muß es sich mit dem verschämten Naturalismus begnügen, der moralisch wie künstlerisch verwerflicher als der echte ist. Zu dieser verkümmerten Gattung gehören das Drama in vier Auszügen Von Hans Olden, „Der Glückstifter", das am Dienstag den 6. October, und das Schauspiel in vier Auszügen, „Der kommende Tag" von Hugo Lubliner, das am Montag den 16. November zur ersten Vorstellung gelangte.