Heft 
(1892) 70
Seite
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Die Berliner Theater.

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Beginn in das Altmodische und Unerquickliche. Daß ein berühmter Maler, Professor Werner Voltz, nicht aus die ungezogene Forderung eines Corpsstudenten wegen einer nächtlichen Rempelei aus der Straße eingehen wird, ist für den gesunden Menschen­verstand einleuchtend, und wenn man auch dem Verfasser zugestehen mag, daß die adeligen Verwandten des Malers er hat ein adeliges Fräulein, Tochter eines Generallieutenants, vor Jahren entführt und geheirathet diese Ablehnung in der Bornirtheit ihrer Standesanschauungen mit nicht geringem Verdruß, wie einen Makel auf ihrer Ehre betrachten, so versteht man denberühmten" Professor um so weniger, der sich über diese Forderung zum Zweikamps aus Pistolen mit einem dummen Jungen ernst­haft den Kopf zerbricht und das Herz vergrämt. Hält er einen Zweikamps überhaupt noch für statthaft und berechtigt, brennt der Gras Friedrich Witterstedt, ein Vetter Elly's, der Gattin des Professors, so sehr darauf, Rache an dem glücklichen Nebenbuhler zu nehmen, warum haben sich denn die Herren nicht bei der Entführung des Dämchens die Hälse gebrochen? Das hätte allenfalls auch ein plebejisches Gemüth begriffen und gebilligt. Um das Unbehagliche des Vorwurfs noch zu steigern, weckt der Verfasser nun noch gar in Elly das Standesbewußtsein derer von Witterstedt auf, das bis da­hin geschlafen haben muß, hat sie sich doch ohne Gewissensbisse von ihrem Verehrer aus dem väterlichen Hause entführen lassen und den bürgerlichen Maler geheirathet. Kaum aber athmet sie wieder Witterst edtffche Luft, so theilt sie auch alle Vorurtheile ihrer Verwandten und ist herzlos genug, ihren Gatten zur Annahme der Forderung zu reizen. Hier, in der ungleichen Ehe, wäre der tragische Conflict zu suchen gewesen; Elly, die ihren Mann aus Leichtsinn und sinnlicher Verliebtheit geheirathet hat, theilt weder seine Anschauungen noch seine Empfindungen, überall fühlt sie sich von seinem Wesen, seinem Plebejerthum verletzt. Daraus ließe sich ein Drama entwickeln. Der Tuellfrage gegenüber zuckt das Publicum die Achseln; der Baron von Roberts und sein Held mögen darüber getheilten Herzens sein, wir sind es nicht, sondern glauben uns in dem dritten und vierten Acte in einem Jrrenhause zu befinden. Man erzählt mir, daß der traurige Held in der Novelle sich selbst erschießt ein Ausgang, der ungleich folgerichtiger und darum befriedigender ist, als die schwächliche Versöhnung zwischen den Gatten, die das Stück auf der Bühne beschließt, nachdem der Maler endlich den Schuß in den Arm weg hat eine Wunde, in der seine Frau offenbar etwas wie einen Orden sieht. Trotz der Frische, mit der die beiden ersten Aufzüge einsetzen, und der geistreichen, satirisch gefärbten Schilderung des adeligen und militärischen Kreises, erfuhr das Schauspiel eine Niederlage; es stellte eben die Duellschwärmer so wenig wie die Duellgegner zufrieden, es gab weder der Leidenschaft noch dem Ver­stände recht.

Diesen wiederholten Mißerfolgen hatte das Lessing-Theater nur einen halben und einen vollen Erfolg entgegenzusetzen; an beiden war der Director zugleich als geschickter und witziger Theaterschriftsteller betheiligt. Am Sonnabend den 29. August brachte er ein Lustspiel in vier AufzügenFalsche Heilige" nach einem eng­lischen Original von A. W. Pinero und am Freitag den 23. October einen in Gemeinschaft mit Gustav Kadelburg verfaßten vieractigen SchwankDie Großstadtluft" auf die Bretter. Das LustspielFalsche Heilige" hält die richtige Mitte zwischen einem französischen Stück aus der Halbwelt und einer englischen Gouvernantennovelle. Oscar Blumenthal hat seiner Eigenart nach den französischen Charakter der Fabel und denEsprit" des Dialogs verstärkt; er läßt die Handlung in Paris, Florenz und wieder in Paris spielen. Willkürlich wie mit dem Ort ist er mit der Zeit umgegangen; zwischen den einzelnen Acten haben wir uns längere Zeiträume zu denken. Ein junges Mädchen, Marguerite Barthet, in der wir uns wohl eine falsche Heilige vorstellen sollen, obwohl sie aus ihrer Vergangenheit kein Hehl macht, bildet den Mittelpunkt der Handlung. Als Vorleserin und Gesellschafterin einer adeligen Dame ist sie mit Gaston von Triseuil bekannt geworden. Er hat ihr schriftlich die Ehe ver­sprochen, und ein kurzer Liebesroman hat zwischen ihnen gespielt. Gerade um eine Stunde kommt sie zu spät nach Paris, um die Ehe des Ungetreuen mit einem reichen