Heft 
(1892) 70
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Die Berliner Theater.

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der hübschen Lola erscheinen in der einsachen schlichten Handlung und Sprache beinahe wie Dinge und Aeußerungen der Natur, der künstlerische Schmuck, den ihnen die Musik verleiht, ist abgestreist, und sie wirken einzig durch ihre lebensvolle unmittelbare Wahrheit. Die vortreffliche Darstellung durch die Mitglieder des Lessing-Theaters, die Damen Reisenhoser und Groß und die Herren Schönseld und Molenar, trug das Ihrige dazu bei, der Dichtung ihren Platz neben der Oper zu sichern.

In dem Deutschen Theater macht sich seit etwa einem Jahre ein bedenk­licher Rückgang in den schauspielerischen Leistungen und in der Jnscenirungskunst, eine Ermüdung der Leitung, eine unglückliche Hand in der Auswahl der Neuigkeiten geltend. Die hervorragenden Kräfte, Ludwig Barnah, Friedrich Haase, Siegwart Friedmann, August Förster, Joseph Kainz, Hedwig Niemann und Agnes Sorma, die über seine Ansänge Glanz und Hoffnung verbreiteten, sind allmälig davongegangen, älter geworden, verdorben und gestorben. Auf dem Einzigen, der von den Gründern zurückgeblieben, Adolph L'Arronge, lasten zu viele und zu verschiedenartige Pflichten, als daß er ihnen allen mit gleicher Kraft, Neigung und Gewandtheit genügen könnte. Am empfindlichsten macht sich der Mangel interessanter schauspielerischer Persönlichkeiten bei der Vorführung des elastischen Repertoires geltend, und nothwendig hat sich darüber der Schwerpunkt des Deutschen Theaters mehr nach der Seite der modernen Komödie hin verschoben. Versuche, wie sie früher dieser Bühne mit überraschendem Erfolge und in künstlerischer Bedeutung mit der Darstellung des Calderonischen DramasDer Richter von Zalamea", der beiden Grillparzer'schen DichtungenWehe dem, der lügt!" undDie Jüdin von Toledo" gelangen, wurden in dieser Spielzeit nicht unternommen; man hat sich mit der Vorführung eines Goethe-Cyclus begnügt, in dem nacheinander: Stella und die Mitschuldigen, Clavigo und die Geschwister, Götz von Berlichingen, Egmont, Torquato Tasso, Iphigenie und Faust an zwei Abenden erschienen: Durchschnittsvorstellungen ohne höheren Werth, die bei einem mäßigen Abonnementspreise ihr Publicum fanden. Mit seinen Neuigkeiten dagegen hat das Deutsche Theater gerade wie die andern Bühnen kein Glück gehabt.

Ein Lustspiel von Rudolf StraßDer blaue Brief" am Donners­tag, den 17. September zum ersten Male aufgesührt, eine militärische Humoreske im Stil Winterseldt's, gehörte mehr in die Sphäre des Wallner-Theater's, als in die einer vornehmeren Bühne, und blieb doch in literarischer Hinsicht weit hinter dem tollen SchwankKrieg im Frieden" zurück. Paul Lind au's Schauspiel in drei Auf­zügen,Die Sonne" folgte ihm am Dienstag, den 29. September. Das Stück hat durch die Kritik eine ungleich herbere Zurückweisung erfahren, als es ver­diente. Man nahm es Paul Lindau übel, daß er in seinem Schauspiel sich über die pessimistische Literatur, über Ibsen und Zola, Tolstoi und Dostojewski, bald launig, bald herbe äußerte; man fand es seltsamerweise ungehörig, daß er als die schwächere dichterische Kraft sich über diese Großen wegwerfend auszusprechen wage. An das Wort Lessing's über Corneille dachte man dabei ebensowenig, wie an die eigene Be­dürftigkeit. Mit welchem Recht fielen diese schneidigen Kritiker, denen noch nie im Leben ein Lied, eine Komödie, eine Novelle geglückt ist, deren ganzes Talent in der Rücksichtslosigkeit der persönlichen Satire besteht, über das harmlose Schauspiel Paul Lindau's her, wenn sie ihm das Recht bestritten, das Langweilige langweilig und das Verschrobene verschroben zu nennen? Es rächt sich eben Alles im Leben; Paul Lindau, der Vater derliterarischen Rücksichtslosigkeiten", büßt es nun am eigenen Fleische, daß er die schmale Grenze im jugendlichen Uebermuth zu oft überschritten hat, welche die Kritik des Kunstwerkes von dem Angriff aus den Verfasser trennt. Den letzten Schau­spielen Paul Lindau's fehlt der Nerv, das Flotte, Unbedachte und Satirische seiner ersten; sein Blut ist zahmer geworden, er traut sich nicht mehr, die Laune überschäumen zu lassen. Aus der Luft der Zeit ist auch ihm die grüblerische Verdrießlichkeit ange­flogen; auch aus dem Grunde seines Bechers findet sich der Bodensatz des Unerquick­lichen. Das hat seinem SchauspielDer Schatten" in dem Herbste 1889 und seinem diesmaligenDie Sonne" mehr als jede Kritik die nachhaltige Wirkung geraubt.