Heft 
(1892) 70
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Die Berliner Theater.

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beruht jetzt in den Couplets und den Gruppirungen, die elektrisch oder bengalisch be­leuchtet werden; sie ist eine theatralische Belustigung niedrigster Art. Dem Wallner- Theater sehlt gegenwärtig nicht nur die literarische Grundlage, sondern auch das Publicum. Halbwegs ist es wie der Lazarus der Legende auf die Brosamen an­gewiesen, die von dem Tisch der Anderen fallen. Im raschen Wechsel hat es fran­zösische Gesangspossen wieTelephonamt VII" undMiß Helyett" und deutsche Scherzspiele wie Francis Stahl'sGewagte Mittel" ausgeführt; seit der Mitte des Novembers spielt es die alte französische PosseImmer zerstreut", deren Mittelstück und Hauptefsect die Treppendecoration des zweiten Actes bildet. Die dramatische Mißernte ist eben aus allen Feldern gleich groß, und vielleicht hat das komische noch empfindlicher unter der Dürre des Naturalismus gelitten als das tragische. Den Dichtern ist bei der Suche nach der Wahrheit das Lachen vergangen. Früher stand der französische Markt ausschließlich dem Residenz-Theater zur Auswahl frei. Jetzt treten die anderen Theater auch hier als Käufer und Mitbewerber aus, und, was das Schlimmste ist, der Markt selbst wtrd schlechter und spärlicher be­schickt als vordem. Zwei ernste und zwei übermüthige Schöpfungen der französischen Muse hat uns das Residenz-Theater beschert; keine von durchschlagendem Erfolge. Die SchwänkeVon Dreien der Glücklichste" von Eugene Labiche und Edmond Gondinet undMadame Mongodin" von Ernest Blum und Raoul Tochä ertragen in der auf die Spitze getriebenen Tollheit ihrer Irrungen und Wirrungen, Verwechselungen und sceuischen Spiele keine ernsthafte Kritik; es ist immer die alte Geschichte mit dem betrogenen Ehemann, mit ganzen oder halben Ehe­brüchen und dem lächerlichen Darum und Daran, an denen im Grunde Niemand Anstoß, aber auch Niemand ein lebhafteres Interesse nehmen kann, da die Unwirklich­keit der Vorgänge und der Caricaturzuschnitt der Figuren das Ganze in die Sphäre des Phantastischen, des mit dem Verstand ausgeklügelten Blödsinns rückt. Ohne das sinnliche Element, das die Darstellung in diese Marionettenwelt bringt, fiele sie platt und flach aus den Boden. Von den ernsteren Stücken ist das eine, die Komödie in einem ActeBesuch nach der Hochzeit" von Alexander Dumas, gerade zwanzig Jahre alt, eine geistreiche, scharfsinnige Analyse des Lebemannes, aber mehr ein philosophischer Dialog als ein Theaterstück, in dem die Bewegung, die Spannung, die Steigerung das Entscheidende ist. Ein Herr von Cignerol besucht mit seiner jungen Frau eine ehemalige Geliebte, eine Dame aus der großen Welt. Anderthalb Jahre haben sie sich nicht gesehen, Frau von Morance hat unmittelbar nach seiner Heirath Paris verlassen. Ein gemeinschaftlicher Freund, den Cignerol im Salon der Frau von Morance findet, tischt ihm allerlei Abenteuer auf, welche die Dame gehabt haben soll; Cignerol wäre weder ihr erster noch ihr letzter Freund gewesen. Daran sängt erst die Eigenliebe, dann die Verderbtheit Cignerol's Feuer; die verlassene Geliebte erscheint vor ihm in der Aureole des Lasters, und Frau von Morance spielt ihm eine Scene zwischen Koketterie und Leidenschaft vor, die ihn völlig überwältigt. Aus der Stelle will er mit ihr nach Italien reisen, seine Frau und sein Kind verlassen, ein Leben des Genusses führen: aus diesen Punkt wollte ihn die kluge Frau führen, um den letzten Funken der alten Liebe in ihrem Herzen zu ersticken und sich mit Ekel von ihm abzuwenden. Der feinste Dust dieser Satire wird nur bei der Lectüre empfunden, aus der Bühne geht gleichsam durch die Körperlichkeit der Schauspieler zu viel davon verloren. Alphonse Daudet's DramaDas Hinderniß", das am Sonnabend den 31. October zur Ausführung gelangte, ist ein wunderlicher Versuch, die Vererbungs­theorie zu widerlegen, die dem Dichter als Fatum der Lebendigen in Jbsen's Schau­spielDie Gespenster" entgegentrat. Ich weiß nicht, ob Daudet sein Werk ernsthaft nahm: möglicher Weise wollte er nur ohne jede polemische Absicht ein heiteres Bild des Lebens jenem düsteren gegenüberstellen. Ein junger Mann wirbt um ein junges Mädchen, beide aus dem Kreise der glücklichen oberen Zehntausend, verliebt, reich, schön, in idyllisch romantischer Stimmung, im hellsten Sonnenschein. Da verweigert der Vormund des Mädchens Plötzlich seine Zustimmung: er hat erfahren, daß der

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