Heft 
(1892) 70
Seite
139
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Kunst- und Literaturgeschichte.

1. Jahrbuch der königlich preußischen Kunstsammlungen. Zwölfter Band.

Berlin, G. Grote'sche Verlagshandlung. 1891.

Wir erinnern uns der Tage noch Wohl, wo aus den Besprechungen eifriger Kunstfreunde diese schöne Unternehmung hervorging, und es darf gesagt werden, daß vom ersten bis zum zwölften Bande eine ruhmvolle Straße vom Jahrbuche zurück­gelegt worden sei. Es enthält werthvolles Material an Aufsätzen wie Abbildungen. Der Fortschritt der Reproduction von Kunstwerken läßt sich au ihm verfolgen. Die Sorgfalt der Auswahl ist stets dieselbe geblieben. Auch daß dem, was man im weiteren Sinne Kunsthistorie nennt: der Betrachtung von Kunstwerken als Documenten der allgemeinen Menschheitsentwicklung, hier eine Stelle versagt blieb, läßt sich aus respeetablen Gründen vertheidigen. Allerdings wäre eine Unternehmung wie diese bei weiter gesteckten Grenzen denkbar: innerhalb derer aber, in deren Kreise sich das Jahr­buch nun einmal Hielt, hat es voll geleistet, was zu erwarten stand. Möge sich, wenn der vierundzwanzigste Band erscheint, eine Feder finden, die mit gleicher Be­friedigung darüber berichten darf.

Die Mitte des ersten Heftes des zwölften Bandes bildet ein Aufsatz über drei Werke, die Dürer's Jugendjahren hier zum ersten Male zugefchrieben werden. Es hat sich gezeigt, daß, wenn die allgemeine Aufmerksamkeit sich großen Künstlern zuwendet, nach einiger Zeit ihre Nebenarbeiten, besonders die Werke ihrer Jugend, in den Vordergrund treten. Dieser Verlauf hat etwas Natürliches. Wir beobachten ihn bei Raphael, Holbein, Goethe und Schiller, neuerdings auch Rembrandt, Michelangelo und Dürer.

Bei den Untersuchungen der Anfänge großer Künstler fällt für ihre Väter und frühesten Lehrer nun ein bedeutender Theil ab. Raphael's Vater, Holbein der Aeltere (Holbein des Jüngeren vermeintlicher Vater und Lehrer), Goethe's und Schiller's Väter haben sich zu Persönlichkeiten erhoben, die in den Biographien, in den Kunst- und Literaturgeschichten mit abzuhandeln sind. Und so auch kommt Dürer's Lehrer Wolgemut endlich an die Reihe und theilt mit Perugino, Giovanni Santi und dem älteren Holbein das Schicksal, entweder unter- oder überschätzt zu werden. Historische Betrachtungen dieser Art entspringen oft zufälliger persönlicher Stellung und werden deshalb mit einer gewissen Begeisterung und, wo es sich um Einsprache oder Zurückweisungen entgegengesetzter Meinung handelt, nicht ohne Schärfe kundgegeben.

Nicht aber aus diesem Grunde allein spricht man sich hier zuweilen mit einer- gewissen Gereiztheit aus, sondern auch weil Untersuchungen dieser Art gegenüber bereits gefühlt wird, daß man zu weit gegangen sei. Allgemein wird zugegeben, es handle sich Lei den Lehrern und Vätern um ziemlich gleichgültige Leute und es seien Raphael's und Holbein's jugendlicher Thätigkeit zahlreichere Werke zugefchrieben worden, als aus ihrer Hand hervorgehen konnten. Zudem weisen auch interessante Stücke der frühesten Zeit großer Meister immer doch so viel Abhängigkeit von vorhandenen