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Deutsche Rundschau.
ihr in der äußeren Erscheinung eine leichte Kruste wie von Eis. Man vergleiche Tizian's und Velasquez' Porträts. Man meint Velasquez habe der Natur in voller Wärme der Empfindung unbefangen gegenübergestanden: neben italienischen Bildnissen ersten Ranges aber empfangen die seinigen den Zusatz steifer spanischer Haltung, der denen, die er zu malen hatte und ihm selber im Blute lag. Wie die Soldaten in Reih und Glied suhlen diese Herren und Damen immer die Verpflichtung, das Auge nach dem Höchst- lommandirenden zu richten. Auch in Calderon's, Lope's und Cervantes' leidenschaftlichen Seenen fehlt dieses Mitsprechen nationaler Etiquette nicht, während es dem Italiener, dessen innerstes Wesen im Gefühl städtischer Unabhängigkeit sich gebildet hatte, durchaus abgeht. Die Blüthe des Quattrocento und Cinquecento entsprang in Italien einem Gleichheitsgefühl rein menschlicher Art, dem selbst die Mächtigsten nachgaben, weil sie, um der Höhe, auf der sie standen, froh zu werden, seiner bedurften.
3. Die Malereien des Huldigungssaales im Rathhause zu Goslar. Jnaugural- Dissertation von Gustav Müller-Grote. Berlin, G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung. 1890.
Wir zeigen die kleine Schrift des I)r. Müller-Grote hier an, weil die Malereien, die Wolgemut im Rathhause zu Goslar ausgeführt haben und um derentwillen er in die Brauergilde der Stadt ausgenommen sein sollte, in den letzten Jahren oster erwähnt worden sind. Der Verfasser macht sehr wahrscheinlich, daß der in den Goslarer Kämmereirechnungen angeführte Nickel oder Michel Wolgemut mit dem Nürnberger Meister nichts zu thun habe und daß, wie R. Bischer bereits vermuthete, Raphon der Urheber der Gemälde im Huldigungszimmer des Rathhauses zu Goslar sei. Dürfen wir dem mit dieser Schrift sich einführenden Verfasser einen guten Rath geben, so ist es der, sich dem Studium Wolgemut's und Dürer's in weiterem Umfange zu widmen und der diese Gebiete beherrschenden etwas unklaren Behandlung die ruhige Feststellung des Materiales entgegenzusetzen. Wir glauben nicht, daß ohne begeisterte Anschauung der Werke Kunstgeschichte fruchtbar geschrieben werden könne, aber wir hegen den Wunsch, daß diese Begeisterung stets von nüchterner Kritik des Thatsäch- lichen getragen werde. Die Art und Weise, wie man jenen Nickel oder Michel Wolgemut aus eine unsichere Notiz hin, die jeder Nachprüfung entbehrte, mit Dürer's Lehrer identisicirte, was als Thatsache in die Bücher überging, zeigt, wie es in dieser Richtung bei uns bestellt sei.
Das Huldigungszimmer des Rathhauses in Goslar enthält Propheten, Sibyllen und Kaiser. Die Gestalten in der unschuldigen Art hingestellt, die sie den Bürgern als Ihresgleichen erscheinen ließ. Diese Anschauung, Alles was die verschiedensten Zeiten menschlicher Geschichte beherbergen, als unter den Bedingungen der Gegenwart und innerhalb des eigenen Volkes vorgesallen anzusehen, verleiht den Tagen, die der Deutschen Reformation vorausgingen, das heitere Dasein. Wie durch und durch anders gingen wir hundertfünfzig Jahre später aus dem dreißigjährigen Kriege hervor! Und doch, wenn wir die Literatur auch dieser jammervollen Tage mit der unserer eigenen Zeit vergleichen: wie einheitlich , unbefangen national und selbstbewußt erscheint sie uns auch damals noch! Wie tragen Bauten und Bildwerke und die Formen des Kunstgewerbes immer noch einheitliches Gepräge.
Die geistige Zersetzung des Deutschen Lebens war erst ein Product der zweiten Hälfte unseres eigenen Jahrhunderts, wo unter der Maske gelehrter kritischer Untersuchung der theilnahmslos die Erscheinungen zerpflückende Geist mächtig wurde, dessen Tyrannei wir uns mit soviel Mühe nun wieder zu entledigen suchen. Es ist, als fange man heute an, des Verlorenen inne zu werden, und der Eifer, mit dem die Nation an der Reorganisation des Schulwesens sich betheiligt, entspringt diesem Gefühle. Damals, als die Goslarer Sibyllen, Kaiser und Propheten gemalt wurden, existirte historisches Bewußtsein im heutigen Sinne überhaupt nicht. Was die Menschheit bis zur eigenen Zeit gethan hatte, war in Bausch und Bogen eine einheitliche große Masse von