Heft 
(1892) 70
Seite
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Frau Jmny Treibet.

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Mustererziehung hatte gleich mit dem ersten Lebenstage des Kindes begonnen. Helene,weil es unschön sei" was übrigens von Seiten des damals noch um sieben Jahre jüngeren Krola 'bestritten wurde war nicht zum Selbstnähren zu bewegen gewesen, und da bei den nun folgenden Verhandlungen eine seitens des alten Commerzienraths in Vorschlag gebrachte Spreewälderamme mit dem Bemerkenes gehe bekanntlich so viel davon aus das unschuldige Kind über" abgelehnt worden war, war man zu dem einzig verbleibenden Auskunstsmittel übergegangen. Eine verheirathete, von dem Geistlichen der Thomasgemeinde warm empfohlene Frau hatte das Aufpäppeln mit großer Gewissenhaftigkeit und mit der Uhr in der Hand übernommen, wobei Lizzi so gut gediehen war, daß sich eine Zeitlang sogar kleine Grübchen aus der Schulter gezeigt hatten. Alles normal und beinah' über das Normale hinaus. Unser alter Commerzienrath hatte denn auch der Sache nie so recht getraut, und erst um ein Erhebliches später, als sich Lizzi mit einem Trennmesser in den Finger geschnitten hatte (das Kindermädchen war dafür entlassen worden), hatte Treibet beruhigt ausgerufen: Gott sei Dank, so viel ich sehen kann, es ist wirkliches Blut."

Ordnungsmäßig hatte Lizzi's Leben begonnen, und ordnungsmäßig war es fortgesetzt worden. Die Wäsche, die sie trug, führte durch den Monat hin die genau correspondirende Tageszahl, so daß man ihr, wie der Großvater sagte, das jedesmalige Datum vom Strumpf lesen konnte.Heut ist der siebzehnte." Der Puppenkleiderschrank war an den Riegeln numerirt, und als es geschah (und dieser schreckliche Tag lag noch nicht lange zurück), daß Lizzi, die sonst die Sorglichkeit selbst war, in ihrer, mit allerlei Kästen ausstasfirten Puppenküche Gries in den Kasten gethan hatte, der doch ganz deutlich die AufschriftLinsen" trug, hatte Helene Veranlassung genommen, ihrem Liebling die Tragweite solchen Fehlgriffs auseinanderzusetzen.Das ist nichts Gleichgültiges, liebe Lizzi. Wer Großes hüten will, muß auch das Kleine zu hüten verstehen. Bedenke, wenn Du ein Brüderchen hättest, und das Brüderchen wäre vielleicht schwach, und Du Willst es mit Lau äs LoIoZns bespritzen, und Du bespritzest es mit Lau äs äavslls, ja, meine liebe Lizzi', so kann Dein Brüderchen blind werden, oder wenn es ins Blut geht, kann es sterben. Und doch wäre es noch eher zu entschuldigen, denn beides ist weiß und sieht aus Wie Wasser; aber Gries und Linsen, meine liebe Lizzff, das ist doch ein starkes Stück von Unaufmerksamkeit oder, was noch schlimmer wäre, von Gleichgültigkeit."

So war Lizzi, die übrigens zu weiterer Genugthuung der Mutter einen Herzmund hatte. Freilich, die zwei blanken Vorderzähne waren immer noch nicht sichtbar genug, um Helenen eine recht volle Herzensfreude gewähren zu können, und so wandten sich ihre mütterlichen Sorgen auch in diesem Augenblicke wieder der ihr so wichtigen Zahnfrage zu, weil sie davon ausging, daß es hier dem von der Natur so glücklich gegebenen Material bis dahin nur an der rechten erziehlichen Aufmerksamkeit gefehlt habe.Du kneifst wieder die Lippen so zusammen, Lizzi; das darf nicht sein. Es sieht besser aus, wenn der Mund sich halb öffnet, fast so wie zum Sprechen. Fräulein Wülsten, ich möchte Sie doch bitten, auf diese Kleinigkeit, die keine Kleinigkeit ist, mehr achten zu wollen. . . Wie steht es denn mit dem Geburtstagsgedicht?"