Heft 
(1892) 70
Seite
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Der Universitätsunterricht und die Astronomie.

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Mathematik als des Naturerkennens gehabt hat; ein Denkmal der ganz besonders innigen und, in bewundernswerthester Weise, gegenseitig förderlichen Beziehungen, Welche seit den ältesten Tagen zwischen der Entfaltung mathematischen Denkens und der Entwicklung astronomischen Wahrnehmens, Zählens und Messens ob­gewaltet haben.

In der reinen und einfachen Gesetzmäßigkeit, in welcher die Kreisgestalt der Sonnenscheibe und des Vollmondes, sowie die Kreislinie des Himmelsrandes und Meereshorizontes und die kugelige Wölbung des Firmamentes sich der unmittel­baren Wahrnehmung darboten, in der ebenso idealen und einfachen Gesetzmäßig­keit, in welcher die tägliche Drehung der Erde die Himmelslichter in kreisförmigen und gleichförmigen Bewegungen die Himmelsfläche entlang führte, sodann in der hohen Vollkommenheit, in welcher der Viertelkreisbogen oder der rechte Winkel durch den Winkel zwischen der Lothrichtung und einer ruhenden Flüssigkeits­oberfläche bei den frühesten Sonnenbeobachtungen mittels der lothrechten Schatten­säulen zur unmittelbaren Erscheinung und zur messenden Anwendung kam, in der Gesammtheit aller solchen, entweder nur am Himmel gefundenen oder in den ersten Stufen astronomischer Geistesarbeit am verständnißvollsten gewürdigten und verwertheten Geschenke der Wahrnehmung in der Außenwelt wurzelten die einfachsten und mächtigsten Anregungen zur Erschaffung der Jdealgebilde, aus denen die Mathematik in den Tiefen des Menschengeistes die Innenwelt ihres Zahlen- und Formenreiches, diese unerschöpfliche Quelle seelischen Glückes und wachsender Macht über die Erscheinungen der Außenwelt aufgebaut hat.

Den ersten Weltweisen erschienen natürlich diejenigen Regionen der Außen­welt, in denen so zu sagen die Geburtsstätte der mathematischen Gebilde der Innenwelt lag, ebenfalls als eine mathematische Idealwelt und als der Sitz derselben Art von schöpferischer göttlicher Kraft, deren die Menschen­seele bei ihrem Aufbau jenes Zahlen- und Formenreiches sich bewußt wurde. 0 hieß es, und ebenso wie man den täglichen Umlauf der Gestirne

ohne Weiteres als die absolut gleichmäßige Bewegungsform, als die unabhängige Variable schlechtweg, deren Annahme bei dem Ausbau von beliebigen Bewegungs­erscheinungen den idealen Grundbau bildet, mit anderem Wort als das von der Gottheit dargebotene Zeitmaß erklärte, ganz ebenso nahm man auch ohne Weiteres an, daß alle Bewegungen am Himmel gleichförmige Bewegungen im Kreise seien oder sich wenigstens aus solchen zusammensetzten, und daß die Grundform aller Gestaltungen im Himmelsraume die sogenannte vollkommenste Gestalt, die Kugel, sei.

Die Neigung zu der Annahme, daß jenes himmlische oder im besonderen Sinne göttliche Gebiet der Außenwelt nicht nur von strengen, stetigen Gesetzen, sondern von den einfachsten Zahlen- und Formengesetzen beherrscht sei, fand ihre frühe Ermuthigung und Bestätigung in einer nicht geringen Anzahl von praktischen Erfolgen der ersten Verallgemeinerungen von Zählungs- und Mesiungs- ergebnissen im Sinne von Vorausbestimmungen. In Folge der großen Ferne der Himmelswelt stellen sich eben nicht bloß die Gestaltungs-, sondern auch viele Bewegungserscheinungen derselben für Wahrnehmungen und Messungen von geringer Schärfe in überraschender Einfachheit und Regelmäßigkeit dar.

Deutschs Rundschau. XVIII, S. 13