Heft 
(1892) 70
Seite
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Deutsche Rundschau.

Eine der merkwürdigsten und folgenreichsten Wendungen erfuhren jene Gedankenreihen, als die offenbar fchon in fehr frühen Tagen der Menschheit ge­machte Entdeckung der zahlenmäßigen Grundlage akustischer Harmonie, nämlich der Nachweis einfachster Zahlenverhältnisfe in den Schwingungsbedingungen der am vollkommensten confonirenden Töne, ihren Einzug in die umfassenderen Systeme griechischer Weltweisheit hielt.

Einfache Gesetze regierten die Gestaltung und Bewegung in der Himmels­welt, ebenso einfache lagen aber auch instinctiven Wohlempfindungen der Seele, nämlich den musischen Harmonien der Tonwelt, zu Grunde. Was war näher­liegend als die Annahme, daß auch in der Himmelswelt musische Harmonien erklingen müßten, und daß dieselben in dieser Idealwelt, gewissermaßen der Innenwelt einer umfassenden Seele, verwandte Glückesempfindungen Hervor­bringen müßten, wie der Einklang der Töne in der Menschenseele.

Es ist gar nicht zu ermessen, wie mächtig diese musische Weltanschauung im Alterthum die weitesten Gebiete des Denkens und Empfindens in bewußter und unbewußter Weise beherrscht hat. Ueberall rief sie die Neigung hervor, die Ver­wirklichung gewisser einfacher Zahlen- und Formenverhältnisse, besonders solcher, die eine akustisch harmonische oder irgend eine streng geometrische Bedeutung hatten, nicht bloß in der Welt menschlichen Bauens und Bildens als das edelste der Leistung, sondern auch in der Himmelswelt als das wahrste und maßgebendste der Erscheinung anzusehen.

Boeckh's Untersuchungen haben auf letzteren Punkt das hellste Licht ge­worfen und gezeigt, wie einfach sich zahlreiche Schwierigkeiten in der Deutung griechischer Beobachtungsergebnisse dadurch lösen, daß man anfangs in bestem Glauben die unmittelbaren Ergebnisse der Zählung und Messung in solcher Weise abzuändern suchte, daß sie in jenem Sinne harmonisch wurden.

Dieselbe Neigung zur Harmonisirung, welche durch Bethätigungen dieser Art aus astronomischem Gebiete der Entwicklung unbefangenen Naturerkennens gefährlich wurde, hat andererseits in großartiger Consequenz schon früh ein Welt­bild ins Leben gerufen, dessen noch lange nicht abschließend erforschte Entwicklungs­geschichte für den Astronomen wie für den Philosophen und Historiker von un­aussprechlichem Reiz ist. Ich meine die etwa ein Jahrhundert nach Plato durch Aristarch zum Abschluß gekommene erste Gestaltung des Copernicanischen Welt­bildes.

Trotz aller im Einzelnen noch obwaltenden Dunkelheiten dieser merkwürdigen Entwicklung ist das Eine zweifellos, daß sie in ihren wesentlichen und entscheiden­den Momenten gerade aus derjenigen Anschauung hervorging, welche die Himmels­welt nicht als einen Theil der großen und umfassenden Natur, sondern alsMne mathematische Idealwelt für sich, am nächsten entsprechend der mathe­matischen Innenwelt der Menschenseele, ansah.

Die ganze sonstige Außenwelt, also die umgebende irdische Natur, erschien im Vergleich damit als etwas so Unreines und Trübes, von der Würde göttlicher Einrichtungen so weit Entferntes, daß man der Erde eine centrale Stellung im Weltgebäude versagen zu müssen glaubte.