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Deutsche Rundschau.
Obwohl dann, während der letzten Jahrhunderte, ähnliche, zum Theil noch bedeutsamere Erfolge mathematischen Forschens auch in den Gebieten der irdischen Natur errungen wurden, Physik und Chemie sich immer strenger und sicherer der mathematischen Deutung, Vorausbestimmung und praktischen Verwerthung der Naturerscheinungen bemächtigten, macht sich doch noch um die Mitte des gegenwärtigen Jahrhunderts bei den Astronomen in rednerischen Darlegungen der Anspruch auf jene besondere Stellung der Astronomie geltend, Wenn es z. V. heißt, die Astronomie allein vermöge die Erscheinungen strenge mit der Theorie zu vergleichen.
Welche Bewandtniß es mit dieser Strenge hat, davon gibt die Entwicklung eines besonderen Zweiges experimenteller Forschung und mathematischer Gestaltung, nämlich der sogenannten Fehlertheorie und des durch gebildetsten Abschnittes derselben, der sogenannten Methode der kleinsten Fehlerquadrate, deutliche Kunde. Seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts aus der mathematischen Behandlung der Probleme des Zufallspieles allmälig durch gemeinsame Arbeit der Mathematiker und der Astronomen entstanden, ist diese Fehlertheorie nichts anderes als das Eingeständniß, daß es auch in der Astronomie wie bei jeder anderen Aufnahme von messenden Wahrnehmungen unmöglich ist, zu vollkommen reinen Erfahrungen zu gelangen und dieselben vollkommen streng mit der mathematischen Theorie, die an sich ein strenges, weil lediglich inneres, aus Identitäten ausgebautes Gebilde sein kann, zu vergleichen. Ueberall, in der Astronomie wie in den anderen Naturwissenschaften, spielen unbekannte oder undurchsichtige, im Einzelnen scheinbar gesetzlose Vorgänge, theils aus der Außenwelt, theils aus den leiblichen Bedingtheiten der Innenwelt stammend, in den strengen Forschungs- proceß hinein, und die Fehlertheorie ist die Organisation des Kampfes und des Schutzes gegen dieselben, verbunden mit sorgsamer Beachtung Alles dessen, was in den sogenannten Fehlererscheinungen auch wieder der spürenden Nachforschung sich darbietet.
Zumal seitdem es auch im eigentlichsten Sinne eine Astrophysik und Astro- chemie, nicht bloß eine Astromechanik gibt, vermag die Astronomie die uralte Würde, eine lediglich mathematische Wissenschaft oder auch nur vorzugsweise eine mathematische Naturwissenschaft zu sein, nicht länger zu behaupten.
Physik und Chemie der irdischen wie der himmlischen Erscheinungswelt beginnen immer mehr das höchste und schwierigste Arbeitsfeld für Messung und Rechnung zu werden und immer mehr der vergleichenden Anwendung der ver- seinertsten und zusammengesetztesten Schöpfungen mathematischen Denkens zum Ver- ständniß der Erscheinungen zu bedürfen, und zwar in viel höherem Grade als die astronomische Bewegungslehre, deren Probleme wegen der großen Ferne der Erscheinungen und wegen der dadurch bedingten Verhüllung einer verwirrenden Zahl von kleinsten und schnellsten Veränderungen relativ einfache sind.
Wenn demnach, dem jetzigen Standpunkte der Natursorschung entsprechend, eine sachgemäßere Anordnung der bezüglichen Abschnitte unseres Vorlesungsverzeichnisses durchgesührt werden sollte, so müßte die Astronomie nicht bloß ausdrücklich unter die Naturwissenschaften eingereiht werden, sondern sie müßte auch ihren Platz erst nach der Physik und Chemie erhalten; denn diese beiden sind