Heft 
(1892) 70
Seite
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Frau von Olfen

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Erscheinungen im Verhältnisse zum Ganzen zukommt. Dichtung und Gelehrsam­keit können verbunden sein. Goethe hat auch darin jener Generation, von der umringt er zuletzt Deutschland beherrschte, seinen Stempel ausgedrückt. Gelehrsam­keit und Dichtkunst reichten sich die Hand und kritischer Genuß überbot zuweilen den rein poetischen. Und so müßte man von Frau von Olsers eher sagen: sie dichtete und urtheilte.

Wie komme ich daraus, Frau von Olsers, auf die niemals öffentliches Licht siel, deren Wege stets stille Psade gewesen sind, mit diesen Größen in einem Athem zu nennen? Sie stand ihnen näher, als wir heute verstehen. Was gilt neben den Eichen, deren Aeste die Jahrhunderte durchrauschen, eine Blume, die unter Gräsern versteckt nur einen einzigen Frühling erlebt? In dem engen Kreise, innerhalb dessen sie sichtbar ist, entfaltet auch sie sich mit lieblicher Kraft. Auch ihr sind die Jahreszeiten dienstbar. Frau von Olsers war eine Dichterin, aber sie war ein Veilchen im Walde. Es entzückte sie, an ihrer Stelle zu empfinden, daß sie im Blühen stehe. Sie kannte ihre Grenzen, aber innerhalb ihrer ihr Recht und ihre Besugniß. Sonne und Luft und ein paar schattige Zweige waren, was sie verlangte. Sie beneidete Niemanden. Sie wollte Keinen ver­drängen. Sie begehrte kaum Beifall oder Gehör. Aber sie sah, sie fühlte den Drang, sich auszusprechen, sie fand das richtige Wort, sie war niemals einsam. Ihr Wunsch wäre kaum gewesen, daß der Kreis ihrer Hörer sich ausdehne. Sie hat nie eine Herrschaft ausüben wollen. Nie das Wort ergriffen, um es zu behalten. Ihre Liebenswürdigkeit hatte nichts, das sich geltend machen Wollte. Was sie sagte, trug immer den Schein gelegentlicher Aenßerung, und wenn sie den Nagel auf den Kops traf, schien sie selber am meisten überrascht. Trotz ihrer Anspruchslosigkeit aber: wo sie stand, da stand sie, und was sie hervor­brachte, war wirklicher Duft und kein erborgter. Mit ihren eigenen feinen Wurzeln sog sie die Kraft zu blühen und zu duften aus dem Boden, aus dem die Eiche sie zog.

Sie trug ein anderes Helles Zeichen, daß sie eine Dichterin von Geblüt sei: sie erkannte mit unfehlbarem Blick die ihr selbst innewohnende Kraft bei Andern und genoß sie aus ihnen mit vollen Zügen. Es Wäre ihr unmöglich gewesen, nicht von der Schönheit selbst entzückt zu sein, die andere Dichter er­füllte. Sich selbst vergaß sie völlig in solchen Momenten des Genusses. Immer aber trat hinterher das Gefühl wieder hervor, daß auch sie vorhanden und daß sie ein hochgeborenes Veilchen sei. Alle Rosengärten von Schiras würden ihr dies Gefühl nicht genommen haben. Sie würde, wenn Homer und Dante und Goethe bei ihr eingetreten wären, nicht verlegen gewesen sein, sondern sie freund­lich empfangen haben als gütige regierende Kaiser, die ihr, die sie doch auch zur Familie gehörte, freundlich und höflich sich bezeugen sollten. Es wäre ihr in diesen Augenblicken nicht in den Sinn gekommen, daß sie diesen ungeheuren Sonnen gegenüber doch nur ein beinahe verschwindend kleines Fünkchen sei: sie hätte in ihrer bescheidenen Art sich nur daran erinnert, daß Licht immer Licht bleibe. Den letzten Maßstäben des Geistes gegenüber decken Quantität und Qualität sich.