Heft 
(1892) 70
Seite
281
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Rudolf Stammler.

I.

Weitab von unserem Vaterlande, im Weltmeere ferner Zonen, liegt die Insel Utopien.

Aus der Landkarte nimmt sich dieselbe ungefähr in Gestalt einer Mondsichel ans, nicht unähnlich der Figur, welche auf unseren Länderzeichnungen etwa der Genfer See beschreibt. Und wie vor grauen Zeiten dieses Wasserbecken seine Wogen weiter gen Südosten in die Berge hinein gerollt haben mag, bis die Rhone sandend ihn eindämmte, so ist es eine chronikmäßige Ueberlieferung der Utopier, daß vordem ihr Land durch eine schmale Zunge mit dem Kontinente verbunden gewesen sei und eine Halbinsel also gebildet habe. Aber in Tagen, die lange dahingesunken, habe der das Land erobernde König Utopus jenen natürlichen Damm durchstechen lassen; Wind und Wetter haben das Ihrige gethan, das Werk jener Hände zu ergänzen, und in der Periode, aus welcher wir zuerst nähere Nach­richten über Utopien erhalten haben, ist dasselbe allseitig vom Meere umrauscht, in insularer Abgeschlossenheit für sich bestehend.

Dieses entlegene Eiland, durch Anlage und Kunst gegen äußeren Angriff ge­sichert und stark befestigt, im Innern aber von der Natur begünstigte, fruchtbare Gefilde bergend, es kann uns ein hochgehendes Interesse bieten durch seine eigen­artigen Rechtseinrichtungen, durch eine absonderliche und ungewohnte Organisation des dortigen Gemeinwesens, wie wir sie in keinem anderen Lande, zu keiner irgend­welchen Epoche der Rechtsgeschichte wiederfinden.

Wenn ich nun um Erlaubniß bitte, an dieser Stelle von den seltsamen Ge­setzen und uns fremdartigen socialen Zuständen Utopiens in Kürze einige Kunde geben zu dürfen, so merke ich alsbald an, daß die Besonderheit des utopischen Rechtes weniger in der Verfassung des Staates begründet liegt, als vielmehr durch die dortige Regelung der wirtschaftlichen Angelegenheiten gegeben wird, der Fragen nach dem Mein und Dein und den rechtlich geordneten Beziehungen der Privatpersonen zu einander.