Utopien.
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Handwerke sich melden und seine gesetzlichen sechs Stunden abarbeiten muß. Wer, ohne deshalb um die ersorderliche Erlaubniß nachgesucht zu haben, die Grenzen seines Kantons überschreitet und ohne Paß ergriffen wird, der wird als Deserteur zurückgebracht und strenge — im Wiederholungsfälle mit dem Verluste der Freiheit >— bestraft. Bekommt ein Bürger Lust, einen Ausflug aus das Land innerhalb des Grundgebietes seiner Stadt zu machen, so kann er dies (wie das dortige Gesetz sich ausdrückt) „mit Zustimmung seiner Gattin und seines Familienvaters"; aber er muß seine Nahrung dadurch vergüten, daß er vor dem Mittagessen und dem Abendbrot ebensoviel arbeitet, als man es in den Orten thut, wo er sich aufhält. —
Mancher möchte in allem diesem eine starke Beschränkung der persönlichen Freiheit finden. Die Utopier aber, indem sie den Zweck ihrer socialen Einrichtungen dahineinsetzen, daß einem Jeden, unter Sicherung seines leiblichen Noth- bedarfes durch den Staat, genügend freie Zeit zur Ausbildung seines Geistes und seiner intellektuellen Talente verbleibe, — sie fühlen in ihren eigenartigen Verhältnissen sich Wohl und sehr glücklich.
Auf die Ermittelung und Verwirklichung der verschiedenen Bedingungen menschlichen Glückes kommt ihnen aber Alles an. Die Tugend erklären sie durch ein „der Natur gemäßes Leben"; der Mensch, welcher dem Antriebe der Natur folge, gehorche in seinen Abneigungen und Gelüsten nur der Stimme der Vernunft. Diese lehrt und veranlaßt uns, fröhlich und harmlos zu leben und unserem Nächsten, der unser Bruder ist, dieselben Vortheile zu verschaffen; sie fordert alle Menschen auf, sich gegenseitig zu helfen und gemeinschaftlich das Freudenfest des Lebens zu feiern. Die Natur hat Allen dieselbe Gestalt gegeben, sie erwärmt Alle in gleichem Grade; sie umfaßt Alle mit derselben Liebe; was sie verdammt, ist die Vergrößerung des eigenen Wohlbefindens, während man dadurch das Unglück eines Anderen erschwert. Wenn hiernach die edelste und gewissermaßen die menschlichste Tugend darin bestehe, die Leiden des Nächsten zu lindern, ihn der Verzweiflung und dem Kummer zu entreißen, ihm die Freuden des Lebens zu verschaffen, oder, mit anderen Worten, ihn der Freude theilhaftig werden zu lassen: so erblicken die Utopier die Berechtigung ihrer Rechtseinrichtungen damit gegeben, daß dieselben die Annehmlichkeiten des Lebens, so zu sagen, den Stoff der Freude an alle Einzelnen in gleichem Maße austheilen.
Und gerne weisen sie dem Fremden gegenüber darauf hin, daß der so unnütze Stand der Juristen bei ihnen ganz unnöthig sei. Denn ihre Gesetze sind einfach; und die Anlässe zu Zwistigkeiten und Verbrechen sehr gemindert. Die wenigen Streitfälle, die sich hier und da ereignen, schlichtet und entscheidet der Fürst in gemeinschaftlicher Sitzung mit den Traniboren aus einfache Weise. So gibt es in Utopien keine Advokaten; man findet, wie man sich dort ausdrückt, keinen jener Sprecher von Prosession, die sich befleißigen, das Gesetz zu verdrehen und mit der größten Gewandtheit eine Sache durchzuführen. Verwerflich erscheint vielmehr den Utopiern die unendliche Menge von Gesetzbüchern und Einzelverordnungen, die gleichwohl für die öffentliche Ordnung noch nicht hinreichen; und für unrichtig halten sie es, die Menschen durch Gesetze einzuschmieden, welche allzu zahlreich sind, als daß jene die Zeit hätten, sie zu lesen, oder allzu dunkel,