Heft 
(1892) 70
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Utopien.

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hatte die Dispensation betreffs Auflösung der ersten und Eingehung der zweiten Ehe verweigert. Der König aber, im Beginne der Reformation ein eifriger Gegner Luther's bekannt ist seine Schriftvon der Vertheidigung der sieben Sacramente" sagte sich nunmehr vom päpstlichen Stuhle los, ließ durch ein besonderes Gericht die von ihm gewünschte Ehescheidung trotzdem aussprechen und erklärte sich unter Zustimmung des Parlamentes zum Oberhaupte der von nun ab bestehenden anglikanischen Kirche. Thomas Morus, welcher die juristische Laufbahn erwählt hatte und durch selten hervorragende Begabung, Kenntnisse und Fertigkeiten aus der Stellung eines juridischen Sachwalters und dann eines richterlichen Beamten zu der höchsten Würde des Reiches emporgestiegen und Kanzler von England geworden war (der Erste, welcher nicht dem Priester­stande oder dem hohen Adel angehörte): vermochte nach seiner Ueberzeugung keiner jener königlichen Maßnahmen zuzustimmen. Nach fruchtlosen Versuchen, dieselben nicht zur Ausführung gedeihen zu lassen, legte er nach dreijähriger Kanzlerschaft das Siegel des Reiches in die Hand des Königs zurück. Aber man stellte ihm das besondere Ansinnen, daß er den Successionseid leiste, wonach eidlich aner­kannt wurde, daß allein die zweite Ehe des Königs rechtsgültig sei und nur die Kinder aus dieser Verbindung auf den Thron von England erbberechtigt sein sollten; und forderte, daß er die Suprematie des Königs über die englische Kirche an Stelle des Papstes, billigend zugestehe. Bei seiner Weigerung wurde er in den Tower geworfen und ihm wegen Hochverrats da er des Königs Macht und Supremat boshaft widerstrebt hätte der Proceß gemacht. Am 6. Juli 1535 ist er hingerichtet worden.

Es würde uns zu weit führen und den Zusammenhang dieser Betrachtungen gänzlich unterbrechen, wollten wir der viel verhandelten Streitfrage nachgehen. Wie diese zähe, strenge Anhänglichkeit des Thomas Morus an die römisch- katholische Kirche, die er vordem ebensowohl in literarischer Fehde gegen die deutschen Reformatoren, wie durch scharfe amtliche Verfolgung der Ketzer be- thätigt, und Welche er nunmehr mit dem Märtyrertode besiegelt hatte, mit den freien Anschauungen des Verfassers der Utopia in Einklang zu bringen sei, welcher die (oben charakterisirte) Moral seiner Utopier von deren religiösem Glauben vollständig scheidend bei der Schilderung der verschiedenartigsten religiösen Seelen auf der Insel die Duldsamkeit in Sachen der Religion mit so beredtem Munde gefordert und verherrlicht hatte; ich kehre vielmehr von dem Verfasser zu dem Werke selbst zurück, dem Buche, welches, dem Titel wie dem Inhalte nach, typisch für alle Schilderung idealer Staatszustände geworden ist.

Allerdings war das Unternehmen, das in der Dichtung von Utopien vor uns liegt, im Alterthume schon einmal in Angriff genommen gewesen, und zwar vor Allen von Platon. Unter den hinterlassenen Werken des griechischen Weltweisen findet sich der Anfang eines unvollendet gebliebenen DialogesKritias oder Athen und Atlantis neuntausend Jahre vor Solon". Derselbe steht im Zusammenhänge mit dem GesprächeTimäos oder Gott und die Welt"; als dessen Fortführung geplant, ist die Ausführung unseres Dialoges besonders aus dem Eingänge des Timäos wesentlich zu ergänzen. Hiernach erzählt die Schrift: In jener sagen­haften Urzeit, die der Titel nennt, habe es eine Insel Atlantis gegeben, draußen

Deutsche Rundschau. XVIII, 5. 19