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Deutsche Rundschau.
Vor der Meerenge von Gibraltar gelegen. In üppiger Pracht hätten auf ihr mächtige Könige geherrscht, deren herrliche Fürstensitze und reiche Paläste mit Weiter Phantasie geschildert, und deren glänzende Hofhaltung und Lebensart im Einzelnen ausgemalt werden. Dereinst hätten sie eine große Heeresmacht ausgestellt und die Nationen Europas unterjochend mit Krieg überzogen; bis ihre gewaltigen Heeressäulen an dem mannhaften, tapferen Widerstande der alten Athener — deren damalige angebliche Staatsversassung dabei in knappem Umrisse kurz mitgetheilt wird — zerschellt wären. — Allein diese „Atlantis" kann nur in sehr beschränktem Maße als Vorläuferin von „Utopien" gelten. Denn nicht nur, daß sie im Aeußeren ein Bruchstück ja geblieben; nein, sie beschränkt sich auch inhaltlich auf Andeutungen, wie es kam, daß der so vornehm gleißende atlantische Staat zu Grunde gehen mußte, indessen das kleine attische Gemeinwesen tüchtig und stark nach außen verblieb; dagegen ist von den internen Einrichtungen beider Staaten und der socialen Frage innerhalb derselben so gut wie gar nicht die Rede. In den übrigen Werken aber, in welchen Platon seine mächtige Staatsphilosophie niedergelegt hat, da gibt er — wie auch Robert von Mo hl in seiner Geschichte der Staatsromane richtig bemerkt H — allerdings dogmatische Regeln für ideale Staatszustände, aber kein dichterisches Bild; und das, Was dort in abstracter Untersuchung gelehrt wurde, hat er in concret vorgestellten Zuständen, die unter der Wirkung jener Gesetze entstanden wären, ersinnend nicht ausgeführt.
Zur Zeit Alexanders des Großen sollen vier Schriften erschienen sein, welche von erträumten trefflichen Staatseinrichtungen bei fremden Völkern berichtet hätten. Genannt werden hier Hekatäos von Abdera, der das glückliche Volk der Hyperboräer beschrieb, und Jambulos, welcher eine Insel im äthiopischen Meere schilderte, auf deren fruchtbarem Boden, dessen Bäume stets reise Früchte trugen, Riesen, 4 Ellen hoch, von 150jähriger Lebensdauer, ohne Krankheit und Beschwerden hausten; sie lebten in Abtheilungen von höchstens 400 Mitgliedern geordnet, hatten Weiber und Kinder gemeinsam und lösten sich in den nöthigen Arbeiten — in Handwerk und Künsten, dem Fischfang, in der Besorgung der Gemeindegeschäfte u. s. s. — abwechselnd ab. Auch der Historiker Theo Po mp soll sich in solcher Dichtung versucht haben. Einst habe König Midas von Phrygien, so führt er nach einer uralten Sage aus, den Silen durch Wein, den er in eine Quelle gemischt hatte, trunken gemacht und so in Fesseln schlagen lassen; erwacht, habe sich der Halbgott durch Offenbarung seines tiefsten Wissens lösen müssen, woraus dieser, im Gegensatz zu dem elenden Leben der hiesigen Menschen, von einem glückseligen Lande am fernsten Rande der Erde erzählte, in welchem Menschen und Thiere zu ungeheurer Größe gedeihen und Erstere doppelt so alt werden, als die Bewohner hiesiger Länder. Ganz besonders aber muß das Buch des Euhemeros über die Insel „Panchaia" im Vordergründe dieser romanhaften Schilderungen gestanden und — wie Alterthumskenner versichern — zu den gelesensten Büchern der Antike gehört haben. Auch dieses Land der Panchäer tritt als entlegene Insel des fernsten indischen Oceanes von üppigster
Mohl, Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. I, S. 172.