Heft 
(1892) 70
Seite
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Utopien.

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III.

Welchen Werth besitzt es nun aber. einleitend greife ich zum andern Male zu der Frageforrn was für einen Werth, fragen wir, kann es denn haben, der Erfindung und Schilderung solcher Jdealstaaten nachzugehen? Ist es nicht nur ein Traum, ein müßig Spiel lebhafter Einbildungskraft, zur fubjectiven Unterhaltung allein tauglich und ohne gegenständlichen Untergrund? Oder sollte vielleicht der Utopie, unangesehen des persönlichen Ergötzens von Autor und Leser, in objectiver Art Sinn und Bedeutung zukommen können?

Wenn ich in dem ersten Theile dieser Studie eine Schilderung der Insel Utopien entworfen habe, wie wir sie aus dem Buche des Thomas Morus kennen, um dann im zweiten den Zusammenhang skizzirend aufzuweisen, in welchem das Werk des englischen Kanzlers zu ähnlichen Elaboraten der Literaturgeschichte sich befindet, so mag es nun gestattet sein, in kurzem Schlußcapitel eine Antwort auf die soeben sormulirte Frage zu suchen.

Indem ich mich anschicke, solches zu thun, habe ich nur aus wenige trockene Vorkenntnisse zurückzuverweisen. Denn es ist zunächst ja an sich einfach und klar, daß die Utopie, der erträumte Jdealstaat, seinen Kontrast in der rauhen Wirk­lichkeit in thatsächlich bestehender Rechtsordnung findet und finden will. Wenn jene eine Gesellschaft und eine Ordnung menschlichen Zusammenlebens ausmalt, wie sie sein sollten, so liegt für dieses Alles, wenn ich so sagen darf, die Pointe erst in der Gegensätzlichkeit, in welcher das Gedichtete dem geschichtlich vorhande­nen Rechte bewußtermaßen gegenübertritt. Diesem Gegensätze wird ja auch von den Dichtern der Utopien schon in dem Beiwerke ihrer Erzählungen durchgängig reichlich Rechnung getragen. Bald Wird der Jdealstaat auf eine ferne und seit­her unbekannte Insel verlegt, oder ist auf den wundervollen Hochlanden Jnner- asrika's zu suchen, da die Karte noch weiß ist; bald muß der Leser sich in alte, längst versunkene Zeiten zurückbemühen oder prophetisch in ferne Zukunft mit Hineinblicken: in jedem Falle sind es zwei Rechtsordnungen, die ersonnene und die wirklich bestehende, deren Verhältniß zu einander nun kritisch zum Austrage zu bringen ist, und von welchen wir jetzt zuerst die an zweiter Stelle genannte, unser geschichtlich gegebenes, wirklich vorhandenes Recht vornehmen wollen.

Viel tausend Regeln und Sätze sind es, die mit rechtlich zwingender Kraft bei uns in Geltung stehen, und ihre Zahl und Masse ist in der Culturentwick- lung der Völker so angeschwollen, daß die Beschäftigung mit ihnen, diesen juridischen Gesetzen, in Lehre und Anwendung seit langem Vielen zum ausschließ­lichen Lebensberufe dient. Aber sie alle, die ungezählten rechtlich und staatlich erlassenen Gesetze sind doch immer nur Menschenwerk! Und daraus folgt nun Zweierlei. Einmal, daß sie niemals vollkommen und immerdar der Ver­besserung bedürftig sind: Wie Alles unvollkommen ist. Was von dem Menschen in der Welt der Erfahrung vollbracht wird. Sodann aber folgt daraus, daß an das dermalen bestehende Recht mit Fug alle Zeit die Frage gerichtet werden kann: ob so, wie es ist, es auch sein sollte? Die staatlichen Gesetze sind nicht Naturproducte. Den Regen und den Sonnenschein, die kann ich freilich nicht befragen, ob sie denn da sein sollten; so wie sie sind, so muß man sie hinnehmen, und gut oder böse kann Niemand sie schelten. Aber gegen das