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Deutsche Rundschau.
Recht, das von Menschen überhaupt erst gesetzt wird, muß unsere Frage immer sich erheben lassen und wird ja auch in der That sonder Unterlaß aufgeworfen; und während das Gesetz der Schwere und das der Undurchdringlichkeit mit moralischem Urtheile gar nichts zu thun haben: ein Rechtssatz, von der Staatsgewalt geschaffen, kann sehr Wohl als ungerecht oder schlecht am Ende behauptet werden.
Und um dies abzuschließen: Wenn nun Jemand eine bestimmte staatliche Einrichtung, irgend ein rechtliches Gesetz für ungerecht erklärt und seine Abschaffung oder Abänderung verlangt, so muß auch klar sein, daß ein solcher Kritiker die Vorstellung von einem Rechtszustande, wie er eigentlich sein sollte, nothwendiger Weise voraussetzt und zu Grunde legt; er trägt den Maßstab schon in seinem Kopfe, wenngleich vielleicht verborgen und verworren, ihm selber unbewußt. Wählen wir hierzu ein Beispiel. Wenn irgendwo und wann von einem bestimmten einzelnen Menschen die Rede wäre, und man von ihm urtheilen und sagen würde, daß es kein tugendhafter Mann sei, so leuchtet doch von gelbst ein, daß man hier die Idee der Tugend und eines vollkommen tugendhaften Menschen als Richtmaß stillschweigend schon genommen und verwendet habe; denn an diese, als Obersatz eines abzugebenden Urtheiles, bringt man den concreten Fall, hier jene bestimmte Person, heran, und, da nun eine Differenz gewahrend, fällt man das Urtheil erst, von dem ich eben sprach; ohne diesen festen und objectiven Maßstab aber, wie ihn hier nur das Ideal vollständiger Tugendhaftigkeit zu liefern vermag, würde unser ganzes genanntes Urtheil subjectiv willkürlich und als allgemein gültiges sinnwidrig und unbeweisbar sein.
Genau ebenso verhält es sich nun mit dem Urtheile über rechtliche Einrichtungen und Staatsgesetze. Wie wollte denn Jemand, zum Exempel, beweisen, daß die bestehende Institution des Privateigenthums ungerecht sei, es sei denn unter der vorausgesetzten Idee einer hier möglichen Gerechtigkeit, welcher dieser vorhandene Rechtszustand nun nicht entspricht? In der That liegt jedem Resormvorschlag, jeder Kritik auch des geringsten Staatsgesetzes die Idee einer vollkommenen Rechtsordnung, der das jetzt Bestehende nicht gemäß sei, ganz sicher zu Grunde. Und indem ich diesem, bis dahin ja einfachen, Gedanken in einer sonst nöthigen schwierigeren Erörterung aus dem Gebiete der Rechtsphilosophie an dieser Stelle gar nicht weiter nachgehen will, so behaupte ich, daß dasjenige, was man gemeiniglich „sociale Frage" benennt, in dem Zielen nach vollkommener Rechtsordnung letztlich aufgeht: sociale Frage ist das Streben nach vernunftgemäßen Rechtseinrichtungen.
In diese Erwägungen tritt nun die Utopie ein. Auch sie stellt sich kritisch der heute bei uns bestehenden Rechtsordnung gegenüber und will, auf sichere Mängel hinweisend, die Unvollkommenheit derselben möglichst scharf zum Bewußtsein bringen; sie entwickelt sodann Vorschläge, wie an Stelle des Bestehenden durch andere Rechtseinrichtungen man einer vollkommenen Rechtsordnung nahe kommen könnte; und endlich belebt und unterstützt sie dieses durch die Einzelschilderung des socialen Zustandes, wie er unter der Herrschaft der vorgeschlagenen utopischen Principien sich concret gestalten würde. Es ist dieses Dritte, die anschauliche Ausmalung der Wirkungen bestimmter Reform-