Utopien.
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Vorschläge, welches der Utopie ganz wesentlich zu eigen ist und das charakteristische Merkmal ausmacht, dadurch sie von der rechtsphilosophischm Betrachtung und der allgemeinen Rechtstheorie einerseits und von dem einfachen politischen Programme zum anderen Theile sich unterscheidet.
Ein solcher utopischer Zustand aber, wie eine schöpferische Einbildungskraft dichtend ihn uns vorführt, kann eine ganz vollkommene und tadellose Rechtsordnung, die mithin das letzte Ziel für alle Rechts- und Staatsentwicklung sein würde, mit Fug nicht bedeuten. Auch die Gesetze auf der Insel Utopien und die Rechts- und Staatseinrichtungen in dem nationalistischen Gemeinwesen Bellamhs bedeuten ja wieder nur Maßnahmen, die von Menschen zu treffen sind und das Attribut menschlicher Thaten deshalb an sich tragen müssen. Mithin unterliegt ein jeder concrete Jdealstaat (wie immer man ihn sich ausmalen mag), da er sich doch gleichfalls auf einzelnen, menschlich gefertigten Rechtssätzen aufbauen muß, in gleicher Weise der Kritik, wie das geschichtlich vorhandene Recht — in Vergleichung mit welchem er vielleicht besser sein kann, indessen er doch niemals vollkommen und absolut gut zu sein vermag.
Doch umgekehrt darf auch die Utopie verlangen, daß man sie nicht lediglich und ausschließlich mit empirischem Material, nicht nur an der Hand der Rechtsgeschichte und nicht bloß auf der Grundlage eines bestimmten Einzelprogrammes messe. Einen festen Maßstab vermag uns nur die Vernunftidee einer vollkommen gerechten Rechtsordnung zu liefern: ein Ideal, welches noch zu keiner Zeit verwirklicht war, und das man niemals Wohl in der Erfahrung wird Herstellen können; dem nachzustreben aber doch das größte Problem der Menschengattung, die höchste Aufgabe der menschlichen Gesellschaft ist. Die Klarlegung jenes unwandelbaren Zielpunktes, wie die Verfolgung möglicher Beziehungen von geschichtlich gegebenen Verhältnissen zu demselben sollte die erste und vornehmste Ausgabe der Socialwissenschast sein; sowie das Einbringen und das Durchführen von hiernach gerechtfertigten Reformen den (im rechten Sinne des Wortes) wissenschaftlichen Politiker kennzeichnen würde. So hatte der scharfsinnige französische Parlamentarier Clsmenceau ganz Recht, als er der Meinung Ausdruck gab, daß als berechtigte politische Parteien nur zwei auf- treten könnten, die aber auch allezeit unumgänglich nothwendig wären: eine solche, welche stetig darauf bedacht sei, die Unvollkommenheiten überlieferter Rechtsordnung in rechter Weise zu resormiren, und eine zweite, deren Beruf sein würde, die ausgesührten Reformen in Fleisch und Blut Aller übergehen zu lassen und in die Sitten einzubürgern; wobei das Vorwiegen der einen oder der anderen Richtung sich nach concreten geschichtlichen Umständen bestimmen würde, ohne daß doch eine von ihnen ganz in Wegfall kommen könnte H.
Und hiernach ist die Frage ausgelöst, die wir an den Eingang dieses Abschnittes gestellt haben: jede Utopie, wenngleich sie niemals ein ewig leuchtendes Ideal, unwandelbar und gültig für alle Völker und alle Zeiten, aufstellen kann, hält doch
i) Rede Clemenceau's in der Alhambra zu Bordeaux am 19. Juli 1885 (vergl. „Allgem. Zeitung" 1885, Nr. 201, Beil.). — In gleicher Richtung, aber bei Weitem nicht io klar und scharf ausgedacht, bewegt sich eine Ausführung in .,1.6 teinps" vom 10. Januar 1889 über politische Programme, mit der Unterscheidung derselben in „idealistische" und „realistische".