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Deutsche Rundschau.
den Gedanken wach an die Unvollkommenheit des geschichtlich gewordenen Rechtes und mahnt, daß man auch hier immerdar auf Vernunftgründe und rationale Erwägungen bedacht sein müsse. Mehr als alles Andere solcher Art regt sie durch die poetische Ausschmückung eines glücklichen, unter anderen fremden Gesetzen blühenden Gemeinwesens dazu an, sich auf die Princip ien zu besinnen, nach welchen rechtliche Gesetze letztlich überall getroffen werden sollten, und wonach man solche überhaupt beurtheilen und verurtheilen darf.
Erst unter der Voraussetzung und mit Hülfe solcher fester Grundsätze würde man aber den Vorschlägen communistischer und socialistischer Utopien im Einzelnen mit Gründen wirksam begegnen können: indem man mit dem festen objectiven Maßstabe, von dem wir andeutend sprachen, bewiese, daß die vorgeschlagenen Mittel unzureichend wären, vollkommener Rechtsordnung uns näher zu bringen.
Alles Andere, was man zur Bekämpfung derartiger Bestrebungen ansonsten aufgeboten hat, versagt auf die Dauer und in der Tiefe den Dienst. Die Geschichte, und sei es auch die vaterländische, kann hier nichts nützen: denn die bloße nackte Thatsache, daß und wie eine bestehende Rechtseinrichtung historisch entstanden sei, ist für die Frage, ob dieselbe auch bleiben solle, in der That ganz unbeweisend; — die Werke christlicher Barmherzigkeit zu Pflegen, so edel und gut dies ist — es trifft den Gegner doch nicht, der fragt, ob die gelinderte Noth von vornherein überall denn nothwendig und durch andere Gesetze und Einrichtungen nicht vermeidbar gewesen wäre; — und soll ich gar von Demjenigen sprechen, der für das Bestehende sich verlassen wollte auf Macht und rohe Gewalt: schlechtes Mittel und unzureichend zugleich! „Der Realpolitiker," sagt der geistvolle Friedrich Albert LangeH, „behält für den Augenblick Recht; den Ideen folgen die großen Zeiträume."
Einsicht in die vernunftgemäßen Principien des Rechtes, und hiernach Erkenntniß der für uns zutreffenden rechten Mittel zum guten Fortschreiten, solche Einsicht thut vor Allem Noth. Hilft hierbei uns die Utopie, und sei es auch nur in einigem Wenigen, so hat sie ihren Dienst gethan, und werthvoll ist sie uns gewesen. Denn „unser Zeitalter" — die Worte, die Immanuel Kant vor hundert Jahren niederschrieb ^), sind wahrlich heute erst recht an ihrem Platz — „ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich Alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur dem bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können."
1) Die Arbeiterfrage. Ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft. Dritte Aufl. 1875. S. 387.
2) Kritik der reinen Vernunft. Erste Aufl. S. V *.