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Deutsche Rundschau.
Bruderstaate geneigt gemacht. Als im Herbste 1889 die großen Manöver die beiden Monarchen in Schlesien zusammenführten, sind in dem stillen Schlosse Rohnstock die Grundzüge des Vertrages verabredet worden, welcher am 6. Deeember 1891 das Licht der Welt erblickte. Man kann nicht sagen, daß ein Theil den anderen zu diesem Abkommen überredet habe. Die Geneigtheit und das Bedürsniß waren aus beiden Seiten, wenn auch aus verschiedenen Beweggründen, gleich stark. Die Verhandlungen Verliesen daher auch ungewöhnlich glatt und rasch. Aus deutscher Seite war man Von vornherein entschlossen, einen Theil der einst hauptsächlich als Kampfmittel geschaffenen Getreide- und Viehzölle zu opfern. Und Oesterreichs Staatsmänner waren ebenso daraus vorbereitet, in den Tarifsätzen, welche für ihre Industrie ein geringeres Interesse besaßen, Deutschland entgegenzukommen. Bei solcher Stimmung der verhandelnden Theile konnte der Erfolg nicht ansbleiben. Die Anbahnung engerer als der bisherigen wirthschastlichen Beziehungen beider großen Staaten wurde zur Thatsache. Und die in vieler Beziehung aus Deutschland und Oesterreich angewiesenen kleineren Nachbarländer fanden es bei den Nachtheilen, mit welchen die Zollpolitik Frankreichs und der Vereinigten Staaten sie bedrohte, angezeigt, trotz mancher gegnerischen Strömungen sich dem wirthschastlichen Bunde thunlichst anzuschließen. Am 6. Deeember ist das Vertragswerk zum Abschlüsse gekommen; am 9. sind die Documente zur Kenntniß des deutschen Volkes gebracht worden; kaum eine Woche später hat der deutsche Reichstag, nach verhältnißmäßig kurzer Berathung, mit überwältigender Majorität den Vereinbarungen seine Zustimmung ertheilt. In Oesterreich-Ungarn, Italien und Belgien nimmt die parlamentarische Behandlung der Verträge längere Frist in Anspruch; doch ist ihre unveränderte Annahme ziemlich zweifellos.
Mit Ausnahme weniger Männer hat das deutsche Publicum das Werk der Regierung warm, ja enthusiastisch begrüßt. Im Anfänge verstummte alle Kritik, denn die einstigen Oppositionsparteien hatten diesmal nur unbedingte Worte der Anerkennung, und die Ackerbauvertreter fanden nicht gleich passende Angriffspunkte. Es war daher nicht leicht, die Angelegenheit richtig zu würdigen. Seitdem aber hat die öffentliche Meinung sich geklärt, und, wenn einerseits schwerwiegendere Einwände erhoben worden sind, fehlt es auch nicht an neuen Argumenten für die Bedeutung der Verträge. Im Allgemeinen verschließt sich Wohl Niemand mehr der Ueberzeugung, daß die Regierung mit ihnen das Einzige gethan hat, was ihr in der gegenwärtigen Weltlage zu thun übrig blieb und daß, mögen die Zugeständnisse der Nachbarstaaten ungenügend oder nicht befriedigend sein, andere Bedingungen eben nicht zu erlangen waren. Sehr verschieden ist dagegen die Beurtheilung des Verhältnisses, in welchem die Handelspolitik der Regierung zu der einst von Fürst Bismarck befolgten steht, und der allgemeinen Wirkungen der gegenwärtigen Action.
Fürst Bismarck hat sich wiederholt in Aussehen erregender Weise gegen den Abschluß der vorliegenden Handelsverträge ausgesprochen. Er verurtheilt die Minderung des Zollschutzes besonders für die Landwirthschast als das Werk unproductiver liberaler Bureaukraten und prophezeit daraus die schlimmsten Folgen für Deutschland. Aber wenn irgend Jemanden, trifft ihn Lob oder Tadel der Vertragsabschlüsse. Die Zoll- resorm von 1879 hat nicht am wenigsten dazu beigetragen, den Siegeslauf des Abschließungssystems bei den verschiedensten Nationen zu befördern. Obwohl Deutschland bei der Erhöhung seiner Tarife nur dem von Frankreich, Oesterreich, Rußland und Amerika gegebenen Muster folgte, hat sein Vorgehen viel mehr Aussehen erregt als das der anderen Staaten. Die Schutzzöllner aller Länder haben sich ein Jahrzehnt lang auf Bismarck als Muster berufen. In der Begründung des neuen französischen Zolltarifs wird ebenso wie in den Motiven der Mac Kinley-Bill die Schutzpolitik Deutschlands als eine der Ursachen bezeichnet, welche weitere autonome Tariferhöhungen nöthig machten. Selbst Rußland hat den Ausbau seines Absperrungsshstems mit dem Hinweis auf Deutschland begründet. Tatsächlich sind Deutschlands Zölle weit hinter denen anderer Länder zurückgeblieben. Aber bei der führenden und weithin sichtbaren Stellung, welche 1879, kurz nach dem Berliner Kongresse, das Deutsche Reich be-