Die Handelsverträge.
299
hauptete, übte eben jede seiner Maßnahmen einen ungewöhnlichen Einfluß aus und fand mehr Beachtung als die Politik der übrigen Staaten. Auf der anderen Seite hat Fürst Bismarck Zur Erhöhung des Zolltarifs und Einführung des Agrarfchutzes gegriffen, um dem Reiche neue Einnahmequellen zu erschließen und um Waffen gegen die Absperrungspolitik der anderen Staaten in die Hand zu bekommen. Schon die veröffentlichten Actenstücke lassen darüber keinen Zweifel. Noch deutlicher sprechen die Mittheilungen der Männer, welche feiner Zeit an der Durchführung der Wirthschasts- reform näheren Antheil genommen haben. Herr Lotz sucht in feiner Schrift: „Die Ideen der deutschen Handelspolitik von 1860—1891", die wichtigste Veranlassung zum Umschwung von 1879 in der Agitation der industriellen und landwirthschastlichen Jntereffenverbände, während er der Handelspolitik des Auslandes nur eine untergeordnete Einwirkung beimißt. In Wahrheit aber lagen die Dinge umgekehrt. Jntereffenverbände hat es jeder Zeit gegeben. Zeitweilig, wie z. B. in den Jahren vor 1848, haben dieselben eine weit energischere und geschicktere Agitation für Schutzzölle betrieben. Aber ihr Erfolg bei den Regierungen war Null, trotzdem mancher hochgestellte Mann ihren Argumenten ein williges Ohr lieh. Denn die in Deutschland von jeher maßgebenden politischen und handelspolitischen allgemeinen Verhältnisse erforderten Ausrechterhaltung einer liberalen Politik. Gerade im Deutschen Reiche, wo der Parlamentarismus bei der geringen politischen Bildung und Beanlagung des Volkes noch in den Windeln liegt, ist die Regierung in der Lage, selbst den stärksten Strömungen im Publicum gegenüber unbeeinflußt zu bleiben und nach eigenem Ermessen zu handeln. Fürst Bismarck sah Ende der siebziger Jahre in den Schutzzöllen ein geeignetes Mittel, das Reich nach innen und außen unabhängiger zu machen und gegenüber der Prohibitionspolitik der wichtigsten Abnehmer der deutschen Maaren eine schneidige Waffe zu gewinnen. Von diesem Gesichtspunkte aus nahm er den Systemwechsel vor. Und der Erfolg hat bewiesen, daß die Ideen, welche ihn bei der Annahme der Getreidezölle zuerst geleitet haben, richtig waren. So lange Deutschland keinen Ernst zeigte, waren von Oesterreich Zugeständnisse nicht zu erreichen. Heute hat das Nachgeben eines kleinen Theils der Agrarzölle eine Menge erheblicher Concessionen herbeigeführt.
Nur ein Unterschied besteht zwischen dem, was Fürst Bismarck einst wünschte und was jetzt erreicht ist: er rechnete aus eine Verständigung gleichzeitig mit Oesterreich und Rußland. Einen Abschluß mit ersterem allein und gar im ausgesprochenen Gegensätze zu letzterem hätte er niemals gut geheißen. Eher hätte er im Nothsalle einen Vertrag mit Rußland allein geschlossen in der Hoffnung, daß die nahen und naturgemäßen politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Oesterreich auch durch Uneinigkeit aus wirthschastlichem Gebiete nicht erschüttert werden könnten. Ausrechterhaltung der guten Beziehungen zu Rußland bildete einen der Angelpunkte seiner Politik; ja, seine eigenartige Theorie, daß politische Freundschaft mit wirthschastlichem Kriege durchaus vereinbar sei, verdankte ihre Entstehung nicht zum wenigsten diesem Bestreben. Nun ist allerdings richtig, daß ein Krieg mit Rußland für uns, zumal so lange die Unversöhnlichkeit in Frankreich weiter besteht, nichts weniger als wünschens- werth ist. Nutzen vermag man sich kaum von einem Siege zu versprechen. Aber derselbe Gesichtspunkt besteht für Rußland. Auch ihm kann ein solcher Krieg nichts Wichtiges einbringen. Landzuwachs braucht das Riesenreich nicht, und die Herrschaft in den Balkanländern müßte der Zar nach Niederwerfung Deutschlands und Oesterreichs erst noch von England erkämpfen. Jetzt nun gar, wo eine nie dagewesene Hungersnoth den größten Theil des europäischen Rußland heimsucht, hätte dies Reich noch mehr zu verlieren als zu gewinnen. Es besteht also jedenfalls auch für uns keine Nothwendigkeit, bei Regelung unserer Angelegenheiten allzu ängstliche Rücksicht aus den östlichen Nachbar zu nehmen. Geleitet von diesen Erwägungen und unter dem Eindruck der französisch-russischen Freundschaftsbezeugungen ist die Regierung beim Abschluß der Handelsverträge vorgegangen. Nachdem alle Versuche, von Rußland für Begünstigung der Einfuhr seiner Rohstoffe irgend ein Zugeständniß zu erlangen, resultatlos geblieben sind, hat man sich entschlossen, die Getreidezollherabsetzung aus die