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Deutsche Rundschau.
Vertragsstaaten und die meistbegünstigten Nationen zu beschränken. Es ist zwar weder im Reichstage noch in den amtlichen deutschen Actenstücken mit klaren Worten ausgesprochen, aber die Vorlage der ungarischen Regierung läßt keinen Zweifel darüber, daß Rußland in Zukunst den bisherigen höheren Zoll zahlen muß, wenn es sich nicht dazu entschließt, den deutschen und österreichischen Jndustrieproducten Einsuhrerleichterungen zu gewähren. In diesem Punkte ist also die gegenwärtige deutsche Regierung in offenen Gegensatz zu der früheren Tradition getreten. Fürst Bismarck hat diesen Schritt besonders lebhaft in der Presse kritisiren lassen, und mit ihm haben die Getreidehändler der Ostseeprovinzen wiederholt laut gegen die Benachteiligung Rußlands protestirt. Nach ihren Ausführungen forderte Deutschland die Rache des mächtigen Nachbarn geradezu mit Gewalt heraus und setzte seinen Handel den größten Gefahren aus. Aber schon jetzt mahnt die besonnenere russische Presse selbst zu einer Verständigung mit Deutschland und warnt vor neuen feindseligen Schritten. Finden diese Mahnungen Gehör und erkauft auch das Zarenreich die deutschen Getreidezollherabsetzungen durch Entgegenkommen aus dem Gebiete der Jndustriezölle, so wird das erreicht, was Fürst Bismarck in den siebziger Jahren umsonst angestrebt hat.
Nicht minder als die landläufige Ausfassung von dem Verhältniß Bismarcks zu der heutigen Handelspolitik bedürfen die Anschauungen, welche hinsichtlich der Bedeutung und Wirkung der Verträge vielfach aufgetaucht sind, einer Richtigstellung. Fast alle liberalen Blätter haben sie als ersten Schritt zur vollständigen Beseitigung der Lebensmittelzölle und als Bruch mit dem Schutzzollsystem gefeiert. Andere Stimmen erwarten von ihnen eine wirthschaftliche Besiegung Frankreichs und außerordentliche Hebung des deutschen Exports nach den mitteleuropäischen Staaten. Wer die Sachlage nüchtern betrachtet, wird keine dieser Auffassungen ganz zu theilen vermögen. Die Regierung denkt nicht an eine auch nur allmälige Aufhebung der Getreidezölle. Gibt sie sich auch über die Wirkung derselben nicht den mannigfach verbreiteten Illusionen hin, so ist sie doch durch zu viele und wichtige Motive genöthigt, an ihnen festzuhalten. Wegfall der Zölle würde das Aufgeben der besten handelspolitischen Waffe bedeuten, welche Deutschland besitzt. Er würde ferner einen sehr bedeutenden Einnahmeausfall nach sich ziehen, der gegenwärtig weniger als je angebracht wäre. Endlich läge die Befürchtung sehr nahe, daß durch die Minderung des Wertstes der großen Güter eine Krisis ausbräche, welche die Aufgabe so mancher Wirtschaft nach sich ziehen müßte und Deutschlands Volksernährung noch mehr als bisher und sogar in einer die Sicherheit des Landes gefährdenden Weise vom Auslande abhängig machte. Die Erfahrung hat bewiesen, daß von einem Drucke dieser Zölle auf die Consumenten bei guten Ernten nicht die Rede ist. Bei schlechten Erträgen der Felder, wie im letzten Jahre, macht sich die Zollbelastung allerdings fühlbar, aber selbst dann würde die Theuerung ohne die Zölle nicht viel geringer sein. Ein so mäßiger Zoll überdies , wie der durch die Verträge festgesetzte, würde, wenn nicht der Detailhandel die Preise unverhältnißmäßig in die Höhe triebe, vom kaufenden Publicum kaum empfunden werden. Wie einmal die Dinge in Deutschland und der übrigen Welt liegen, hat es auch sonst, fürchten wir, mit dem vollständigen Uebergange zum Freihandelssystem noch seine guten Wege. Wer die Zusammenstellungen in dem neuesten Sammelbande des Vereins für Socialpolitik durchblättert, kann sich davon überzeugen, daß — mit Ausnahme Englands — alle Staaten in den letzten Jahren mehr und mehr zum Schutze der nationalen Arbeit übergegangen sind. Ja, man kann sagen, daß seit Menschengedenken eine wirklich freihändlerische Politik unter den großen Staaten nur von dem Zollverein und England befolgt worden ist. Napoleon III. ist aus dem Wege des Freihandels zu keiner Zeit so weit gegangen wie diese genannten Staatswesen. Frankreich ist auch in seiner liberalsten Zeit von recht beträchtlichen Zollmauern eingeschlossen gewesen. — Der Tarif, welchen Preußen im Jahre 1818 veröffentlichte, war der liberalste der Welt zu jener Zeit. Bei der Unmöglichkeit, die weit gedehnte, vielfach durchbrochene Grenze des damaligen Staates wirksam mit hohen Zöllen zu umgeben, und der Abgeneigtheit der damaligen Staatsleiter, eine ungesunde