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Deutsche Rundschau.
fähig. Und die europäischen Länder suchen, wie schon erwähnt, fortgesetzt ihren Bedarf an Jndustrieproducten selbst zu decken. Geht das so fort, so muß der Moment eintreten, wo die deutschen Erzeugnisse keine Abnehmer mehr finden. Was soll dann aus der Industrie, was aus den überflüssig werdenden Arbeitern werdend Wie am Eingänge dieses Aufsatzes ausgeführt wurde, muß Deutschland, da es sich nicht mit Gewalt Raum schaffen kann und mag, Ersatz im Osten und Süden Europas suchen. Die langjährige Erfahrung, welche eben wieder durch den Abschluß der Verträge bestätigt worden ist, beweist, daß dieser Ersatz nur mit Hülfe von beiderseitigen Con- cessionen zu erreichen ist. Mag man daher über den Nutzen oder Schaden der Zölle denken wie man will, so lange die gegenwärtige Weltlage fortbesteht, wird Deutschland genöthigt sein, feinen Tarif im Wesentlichen beizubehalten und nur gegen erhebliche Zugeständnisse anderer Länder herabzusetzen. Freilich steht ebenso wenig ein Fortfchreiten im Wege des Schutzzolles bevor, da ein solches die handelspolitische Lage Deutschlands verschlimmern würde. Die Regierung ist sich dessen genau bewußt und auch von den großen Uebelständen des Schutzsystems für die innere Entwicklung durchdrungen, sonst würde sie den Tarif nicht für zwölf Jahre gebunden haben.
Die nothwendige Verständigung mit Oesterreich-Ungarn ist nun durch die Verträge zur Thatsache geworden; doch entspricht sie bei Weitem nicht dem anzustrebenden Ideale. Gewiß haben sich beide Staaten gegenseitig eine Reihe von Vortheilen eingeräumt, aber bis zur Herstellung eines geschlossenen Wirthschaftsgebietes, bis zu dem Zustande, wo Oesterreich-Ungarn sich mit deutschen Jndustrieartikeln versorgen und dafür den Ausfall des deutschen Kürnerbaues mit seinen Ueberschüffen decken wird, ist noch ein weiter Weg. Vor der Hand baut unser Verbündeter kaum genug Roggen für seinen Bedarf und hat auch in Weizen nicht genügend Ueberschuß. Und gleichzeitig findet nicht einmal feine eigene, im Verhältniß zur Größe des Landes unbedeutende Industrie hinreichenden Absatz zu Hause. In Siebenbürgen liegt aller Handel und Wandel darnieder, weil der frühere lebhafte Absatz nach Rumänien in Folge des Zollkrieges verloren gegangen ist. Erst in neuester Zeit hat sich Ungarn aufgerafft und beginnt lang Versäumtes nachzuholen. Die Bodencultur wird gefördert, die Einführung von Industrien unterstützt, die Communication zu Wasser und zu Lande nach Kräften entwickelt. Wird diese Politik fortgesetzt, so kann vielleicht noch während der Dauer des jetzigen Vertrages das erstrebte Ziel wenigstens theilweise erreicht werden. Bis zu seiner vollen Verwirklichung werden freilich noch Menschenalter vergehen, und es wird dazu näherer Anschluß des osmauischen Reiches an Mitteleuropa erforderlich sein. Für den Augenblick bedeuten weder die Zugeständnisse Deutschlands noch die der anderen Staaten allzu viel für Industrie und Ackerbau der vertragschließenden Theile. Mehr als sie profitirt vor der Hand Nordamerika, indem es für sein Getreide den ermäßigten Zoll gemäß der fortbestehenden Meistbegünstigungs- clausel genießt, und die deutsche Zuckerindustrie, indem sie die Zollfreiheit in den Vereinigten Staaten dafür behält. Frankreich hat dieselben Vortheile wie Oesterreich, ohne dafür Etwas zu gewähren, und behält freie Hand. Der einzige Nachtheil, der ihm durch die Verträge zugefügt wird, ist die weitere Abziehung Italiens, Belgiens und der Schweiz von seiner Politik, was eines Tages immerhin wichtige Folgen haben kann. Von einem handelspolitischen Sedan für Frankreich in Bezug auf die Verträge zu sprechen, ist aber arge Uebertreibung.
Die wichtigste Folge der handelspolitischen That des Grafen Caprivi ist gegenwärtig Sicherstellung der Zollsätze für zwölf Jahre, Gewährung der dem Handel so nöthigen Stabilität und daneben die Neubelebung der Hoffnung aus bessere Zeiten. Der moralische Eindruck der Vertrüge war ein großer im In- und Auslande; wir erhoffen von ihm das Beste. Nimmt Deutschland gegenwärtig auch nicht die impo- nirende Stellung wie zur Zeit des Berliner Congresses ein, es spielt doch noch immer eine der ersten Rollen auf dem Welttheater. Wir hoffen daher, daß seine Bestrebungen zur Minderung der Zollschranken und Herstellung erträglicherer Verhältnisse dieselbe Nachahmung wie seine einstmaligen entgegengesetzten Schritte finden werden.