Heft 
(1892) 70
Seite
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Deutsche Rundschau.

Berlin und Weimar", oder sagen wir besser, jeden mißverständlichen Dualismus abschneidend, Berlin-Weimar war die Losung, die Locher einem hiesigen Literatur- verein in die Wiege legte und 1890 als Festredner der Goethe-Gesellschaft erläuterte, um nicht sowohl zwei Städte, als zwei geistige und sittliche Großmächte Deutschlands symbolisch zu vereinigen, sowie er selbst in beiden Hemisphären zu Hause war und, wo immer er weilte, ein Stück Weimar gleich einer Scholle Muttererde mitsührte. Der Altpreuße, der Berliner durste sich Goethes aus engem Winkel ins Weiteste zielendes Wort aneignen:Ich bin Weltbewohner, bin Weimaraner."

DieDeutsche Rundschau" hat Herrn von Locher zu einem Vortrag über das Hausgesetz derAchillea" wie für die eben erwähnte Festrede das Wort ertheilen dürfen und dergestalt sein zwiefaches, aber nicht zwiespältiges Bemühen zum Ausdruck gebracht.

Seit der Hempelffchen Goethe-Ausgabe stand Locher im Vordertreffen der Forschung. Seine Kommentare zuDichtung und Wahrheit", demWestöstlichen Divan", den Sprüchen", denGedichten", demFaust" sind, wie Manches auch unerledigt blieb, Denkmäler einer umsichtigen, gelehrten, feinsinnigen Versenkung in Goethes Welt. Wenigen Briefwechseln ist eine so saubere und reiche Mitgift beschert worden, wie durch ihn Goethes Blättern an Sophie von La Roche und ihre Enkelin Bettina. Der genialen Umdichterin des Briefwechsels Goethes mit einem Kinde widmete dieser sorgsame, aber in keiner Kleinkrämerei befangene Mann ein anschauliches Lebensbild. Er beherzigte stets die Lehre:

Willst du dich am Ganzen erquicken,

So mußt du das Ganze im Kleinsten erblicken.

Er verlor nie den großen Plan und Zusammenhang im Zutragen und Rühren des Mörtels. Nicht nur eine beneidenswerthe Herrschaft über Goethe's einzelne Werke und eine über Zeiten und Völker ausgebreitete Belesenheit, in der seine Noten mit­unter allzu freigebig schwelgten, auch eigene Welterfahrung machte ihn zum Inter­preten. Er hatte ein ungemein gegenwärtiges, fast nie versagendes Wissen in Allem, was näher oder ferner mit Goethe zusammenhing, und spendete unverdrossen aus dieser Fülle. Gar Mancher hat da vollauf erfahren:

Bor den Wissenden sich stellen,

Sicher ist's in allen Fällen.

Zur Belehrung oder Berichtigung gesellte sich gern die Anerkennung, denn da war nichts zu spüren von eingerosteter Rechthaberei, dünkelhaftem Eigensinn, griesgrämiger Scheelsucht, die anderen Paläophrons zur Seite gehen, grau und krächzend, und ihr Alter so unliebenswürdig machen. Locher wurde wie sein Goethe niemals auf dem Neidpfade betroffen. Er ließ nicht ab zuzulernen und umzulernen. Er hatte großen Respect vor fremdem Verdienst, nahm auf jede ehrliche Leistung, woher sie auch kam, Rücksicht und war sich der Schranken seines Könnens bewußt. Wie er in Herman Grimm's Colleg auf der Studentenbank gesessen oder sich auch Lei Scherer philo­logischen Rath geholt hatte, so verschmähte er für die Griffe und Kniffe eineskritischen Apparates" zur letzten Ausgabe der Gedichte Beistand oder selbst Correctur geschulter Jüngerer nicht. Wahrhaft kameradschaftlich hauste er mit uns Monate lang zusammen, stets bereit, als der Fleißigste von Allen, die eigene Arbeit zu unterbrechen, um als der Allkundige jede Frage woher ist dies? wem gehört das? schlagfertig zu beantworten. Auch der Feuergeist des Grimms konnte den lebhaften Mann ent­flammen, und während des letzten Jahrzehnts war ihm ein Pfahl ins Fleisch gesetzt, der ihn nicht bloß zu monologischen Ergüssen der Polemik in dichtbeschriebenen Hand­exemplaren, sondern auch zu offenen und siegreichen Waffengängen reizte, zum Kampf ums Recht des Goetheffchen Dichterworts, seine Wahrung, Ordnung, Deutung. Das Wort sie sollen lassen stahn! ries der treue Diener am Wort den krittelnden Zer- dünnern zu. Dann ging er erfrischt zurück an seine Arbeit.

Ihm war es vergönnt, daß, kurz bevor er ehrenvoll als Wirklicher Geheimer Rath und Excellenz aus dem Kgl. Hausarchiv zu Berlin scheiden mußte, die Riegel