Heft 
(1892) 70
Seite
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Politische Rundschau.

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Interessen" wesentlich anders aus wie die übrigen Regierungen. In dieser Beziehung muß denn auch daraus hingewiesen werden, daß der König von Italien beim Neujahrs- empfange der Präsidenten und der Deputationen des Senats und der Kammer ins­besondere seiner Genugtuung über die Vereinbarung der neuen Handelsverträge mit dem Hinweise Ausdruck lieh, wie die politische Lage Europas die Annahme rechtfertige, daß das Friedenswerk sich ohne Störung werde durchführen lassen. Mit Fug brachte König Humbert den Abschluß dieser Verträge in innigen Zusammenhang mit dem ernsten Streben, für die finanzielle und wirthschaftliche Besserung Sorge zu tragen. Auch der leitende Staatsmann in Ungarn, Graf Szapary, wies beim Neujahrsempfange nicht bloß auf die Wiederherstellung des finanziellen Gleichgewichts im Staatshaus­halte, sondern auch auf die Handelsverträge hin, die in der That als die friedliche Signatur bezeichnet werden können, mit der das neue Jahr eröffnet worden ist.

Sollte jedoch der anscheinende Widerspruch hervorgehoben werden, der darin liegt, daß der Präsident der französischen Republik in derselben Weise die wirthschastlichen Interessen in den Vordergrund rückt, obgleich Deputirtenkammer und Senat, weit da­von entfernt, die Abschließung von Handelsverträgen zu befürworten, ihren extrem schutzzöllnerifchen Maximaltarif und den von diesem trotz des schönen Namens nicht wesentlich abweichenden Minimaltarif angenommen haben, so liegt doch das Schwer­gewicht in der Thatsache, daß nicht bloß die zum europäischen Friedensbündnisse vereinigten Staaten, sondern im Anschlüsse an diese auch andere keineswegs in der Jsolirung das wirthschaftliche Heil erblicken. Auch darf nicht in Abrede gestellt wer­den , daß unmittelbar nach dem Bekanntwerden dieses Einvernehmens der anderen Staaten auf handelspolitischem Gebiete in Frankreich selbst sich ein Umschwung voll­zogen hat, der sich sogleich in der Anbahnung von Verhandlungen mit verschiedenen Ländern äußerte. Bezwecken diese Verhandlungen auch an erster Stelle, für die fran­zösische Republik eine günstigere Position lediglich gegen die Gewährung des Minimal- tarifes zu sichern, so darf doch jetzt bereits als gewiß gelten, daß die Macht der Ver­hältnisse zu weiteren Zugeständnissen führen wird, die dann auch Deutschland zu statten kommen müssen, da in dem Frankfurter Friedensvertrage die Clausel der Meist­begünstigung Aufnahme gefunden hat. Die französische Regierung wird auch sehr bald die Ueberzeugung gewinnen, daß in einer Zeit, in der der internationale Verkehr auf allen Gebieten unablässige Fortschritte macht, es unmöglich ist, sich mit einer Art chinesischer Mauer zu umgeben, als die das extrem schutzzöllnerische Regime mit Recht bezeichnet worden ist.

Konnte es nun im Hinblick auf die allgemeinen friedlichen Versicherungen, mit denen das neue Jahr eröffnet wurde, den Anschein gewinnen, daß am politischen Horizonte überhaupt keine dunklen Punkte mehr vorhanden wären, so werden die berufsmäßigen Schwarzseher nicht ermangeln, auf denFall Chadourne" hinzuweisen. Hat doch die bulgarische Regierung nach der Auffassung der französischen Presse gewagt", einen Correspondenten derAgence Havas", der allerdings, wie von anderer Seite festgestellt worden ist, in systematischer Weise die unrichtigsten Nachrichten über bulgarische Verhältnisse verbreitete, aus Sofia auszuweisen. Diese Maßregel rief dann in Frankreich nicht bloß einen allgemeinen Sturm der Entrüstung hervor, sondern sie bot auch den Anlaß zum Abbruche der bestehenden diplomatischen Beziehungen. Die französische Regierung beruft sich auf die Kapitulationen, nach denen nur die Pforte als der souveräne Staat kraft ihrer Oberhoheit über Bulgarien berechtigt wäre, der­artige Ausweisungsmaßregeln zu treffen. Beinahe könnte es wie Ironie erscheinen, daß die französische Regierung sich auch tatsächlich an die Pforte gewendet hat, Während diese selbst doch mit den sogenannten Kapitulationen gewissermaßen auf ge­spanntem Fuße steht. Der Zusammenhang zwischen dem diplomatischen Vorgehen Frankreichs und der Ausweisung Chadourne's, der nach allen vorliegenden authen­tischen Mittheilungen als eine wenig interessante Persönlichkeit erscheint, ist eigen­tümlich genug. Man wird kaum bei der Annahme fehlgehen, daß das republikanische Frankreich der russischen Regierung einen Liebesdienst erweisen wollte, indem es der

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