Politische Rundschau.
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lische sind, England auch an der Zukunft Aegyptens ein größeres Interesse habe als alle übrigen Mächte in ihrer Gesammtheit.
Neben der ägyptischen Angelegenheit ist auch die „marokkanische Frage" in diesen Tagen wieder zur Erörterung gelangt. Obgleich es sich nur um eine locale aufständische Bewegung handeln soll, sind doch in Marokko so mannigfache Interessen der europäischen Staaten im Spiele, daß es nicht überraschen kann, wenn die verschiedenen Regierungen diesen Interessen durch die Entsendung von Flotten oder Kriegsschiffen den geeigneten Nachdruck geben. Es braucht nur daraus hingewiesen zu werden, daß Spanien, England, Frankreich zwar zunächst betheiligt erscheinen, daß aber auch Deutschland und Italien handelspolitische Interessen in Marokko haben. Mit einer besonderen Eifersucht wachen aber Frankreich, England und Spanien darüber, daß der Status guo nicht zum eigenen Nachtheile verändert werde. Besonders empfindlich zeigten sich die Spanier bei früheren Gelegenheiten, zumal ihre Marokko benachbarten afrikanischen Besitzungen oft genug von den marokkanischen Riffbewohnern heimgefucht wurden. Die Franzosen sind durch ihre nordafrikanische Colonialpolitik bereits mehrfach mit Marokko in Conflicte gerathen, die damit begannen, daß die Occupation Algeriens bei der fanatisch mohammedanischen Bevölkerung Marokkos sogleich den religiösen Fanatismus erregt hat. Freilich sind die Zeiten längst vorüber, in denen Abd-el- Kader in Marokko die wildesten Leidenschaften gegen Frankreich entfesselte. Vielmehr ist den Behörden in Algerien der Vorwurf gemacht worden, daß sie ihre Machtsphäre über die marokkanische Grenze hinaus auszudehnen bemüht sind, indem sie bald versichern lassen, daß es sich um ein herrenloses Gebiet handle, bald sich darauf berufen, daß von marokkanischer Seite Beutezüge nach Algerien hin unternommen worden seien, für die die Eingeborenen gezüchtigt werden müßten. Da nun noch in Aller Erinnerung ist, wie die Besetzung Tunesiens durch Frankreich damit eingeleitet wurde, daß die „Krumirs" den Franzosen allerlei Unbilden zugefügt haben sollten, ohne daß diese Behauptung jemals durch stichhaltige Beweise erhärtet worden wäre, riefen auch die Mittheilungen, nach denen marokkanische Stämme in Algerien Unheil angerichtet haben sollten, zumeist ein gewisses Mißtrauen hervor. Was England betrifft, so hat es ein nicht geringes Interesse daran, wer auf der afrikanischen Seite der Straße von Gibraltar maßgebenden Einstuß besitzt. In England gilt es eben nach wie vor als ein wichtiges Princip der gesummten Orientpolitik, die Seestraße nach Indien, die durch den Suezcanal führt, für die eigenen Schiffe frei zu halten. Andererseits ist wenig wahrscheinlich, daß der „Standard" sich auf bereits getroffene Entschließungen des Cabinets Salisbury stützen konnte, als er jüngst die Besitzergreifung Tangers durch England erörterte. Vielmehr hat dieses augenblicklich ebenso wie Frankreich und Spanien ein Interesse daran, daß die marokkanische Frage nicht „aufgerollt" werde. Sollten die Franzosen selbst in die Algerien benachbarten Tuatoafen Vordringen, so würden sie doch Bedenken tragen, ihre Machtsphäre weiter auszudehnen, weil sie nicht bloß in einen Conflict mit dem Sultan von Marokko gerathen müßten, sondern auch bei England und Spanien auf Widerstand stoßen würden. Es braucht nur daran erinnert zu werden, daß Frankreich durch die Occupation Tunesiens, woselbst Italien wichtige Interessen geltend machen durfte, sich bereits zu diesem Lande in schroffen Gegensatz gebracht hat. Um so mehr wird die französische Republik daher Bedenken tragen, sich neue Widersacher am Mittelländischen Meere zu schaffen. Wie England und Spanien ein einseitiges Vorgehen Frankreichs behufs Vernichtung der Selbständigkeit Marokkos nicht zulasten könnten, würde auch Italien darauf Hinweisen, daß eine neue Störung des Gleichgewichtes am Mittelländischen Meere nicht erfolgen darf. Bildet doch die Aufrechterhaltung dieses Gleichgewichtes einen der hauptsächlichen Punkte, die in dem europäischen Friedensbündnisse Deutschlands, Italiens und Oesterreich-Ungarns volle Berücksichtigung gefunden haben.